40. Todestag von John Lennon

Wünschen als politische Strategie

40 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod wird John Lennon von höchst unterschiedlichen Seiten gefeiert und vereinnahmt. Seine größte Leistung wird dabei meist übersehen: Der Musiker war Vorreiter einer Verschmelzung von Kunst und Pop

Die Frage "Was würde XY zu Z sagen?" ist eine gern gebrauchte Floskel zu runden Todestagen. Dabei setzt man für XY den Namen einer verstorbenen, am besten meinungsfreudigen Berühmtheit ein und für Z ein beliebiges zeitgenössisches Aufregerthema, das irgendwie mit dem Betätigungsfeld von XY zu tun hat.

Beim Musiker und Performance-Künstler John Lennon, der am 8. Dezember vor genau 40 Jahren in New York erschossen wurde, würde man allerdings tatsächlich gern ein Statement zu seiner derzeitigen Rezeption einholen. Denn im Jahr 2020 ließen sich bemerkenswerte Bezüge zu seinen Friedens- und Gemeinschafts-Utopien von unterschiedlichen Seiten beobachten.

Einerseits richteten Mitstreiter der Demokratie-Bewegung in Hongkong sogenannte "Lennon-Walls" im öffentlichen Raum ein, an denen Passanten ihre Forderungen und Wünsche in Form von Post-It-Zetteln festkleben können. Andererseits hört man auf den sogenannten "Querdenker-Demos" gegen die staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen kleine Grüppchen "Imagine" zur mitgebrachten Gitarre singen, während die Bewegung gleichzeitig mit Rechtsextremisten durchsetzt ist. Bei einem "Medienmarsch" zu Berliner Redaktionshäusern, bei dem gut 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer die vermeintlich manipulierte Berichterstattung über die Corona-Pandemie anprangerten, flatterte an einem der Demo-Trucks eine Fahne mit aufgemaltem Lennon-Gesicht. 

Die ernüchternde Schlussfolgerung aus dieser wiedersprüchlichen Vereinnahmung wäre, das ehemalige Viertel der Beatles als ultimative Projektionsfläche zu deklarieren, die mit seinen "Give Peace A Chance"- und "Power To The People"-Slogans eine Schatzkammer voller Gemeinplätze geschaffen hat, aus der sich nun jeder bedienen kann. Auch für Lennons Mörder, der mit einem Exemplar des Romans "Der Fänger im Roggen" in der Tasche vor dem Dakota-Apartmentkomplex in New York auf sein Opfer wartete und sich Stunden vor der Tat noch eine Platte signieren ließ, war der Musiker wohl vor allem eine Chiffre für Prominenz und Sichtbarkeit. "Ich wollte Ruhm", soll er laut Medienberichten in diesem Jahr bei einer Anhörung zur möglichen Bewährung gesagt haben. Der Antrag wurde zum wiederholten Male abgelehnt, der Täter sitzt weiter in einem Gefängnis im Bundesstaat New York. 

Die Vorstellung versetzt Berge

Die etwas differenziertere Annahme wäre vielleicht, dass John Lennon und seine zweite Ehefrau Yoko Ono (die immer noch im Dakota Building in der Upper West Side lebt) mit ihren Kunst-Happenings für den Frieden mit einfachen ästhetischen Mitteln die Idee manifestiert haben, dass offensives Wünschen hilft. Der Gedanke, dass man den Lauf der Welt zum Besseren verändern kann, wenn man wochenlang im Bett bleibt, ist ziemlich unwiderstehlich.

Die Botschaft "War is Over (if you want it)" gehört zu Weihnachten wie Wham!, Spendengalas und der Coca-Cola-Truck. Lennon und Yoko Ono stehen für eine Kunst, in der die Vorstellung buchstäblich Berge versetzen kann. Und auch wenn die Inhalte sich fundamental entgegenstehen: Ein bisschen magisches Denken gehört zu jeglicher Form von Aktivismus - ob man gegen Chinas realen autokratischen Einfluss auf Hongkong demonstriert, oder aber glaubt, eine globale Pandemie durch die eigene Überzeugung für beendet erklären zu können.  

Sieht man von widersprüchlichen politischen Deutungen ab, lässt sich John Lennon heute wahrscheinlich am ehesten als Vorreiter einer Verschmelzung von Kunst und Pop lesen, die die Unterscheidung zwischen Hochkultur und Mainstream inzwischen weitgehend überflüssig gemacht hat. Als Lennon sich als einer der größten Musikstars der Welt Ende der 1960er-Jahre in Yoko Onos Universum der Konzeptkunst-Avantgarde begab, war diese Symbiose jedoch weit weniger etabliert. Sie wurde von vielen Beatles-Fans gar als Verrat empfunden.

Was ist bloß aus dem Beatle geworden?

Dass der Musiker 1970 die Band verließ, wurde nicht als Wunsch eines Künstlers anerkannt, nach Jahren der globalen Massenhysterie etwas anderes zu machen. Vielmehr wurde der Ausstieg als Folge des schlechten Einflusses einer "Kunst-Hexe" gewertet, die einen verehrten Beatle dazu brachte, für eine "Bagism"-Performance in Wien in einem riesigen Jutesack Sacher-Torte zu essen. Dass Yoko Ono heute auch unabhängig von ihrem verstorbenen Ehemann als eine der wichtigsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts anerkannt ist, kann man als verspätete Gerechtigkeit sehen. Es täuscht jedoch nicht darüber hinweg, wie viel Feindseligkeit die Tatsache auslöste, dass eine mittelberühmte Frau einen hyperberühmten Mann auf neue Karriere-Pfade führte. 

In der gegenwärtigen Diskussion um Männerbilder, die auch die Kunst prägt, ist John Lennon eine ambivalente Figur. Als 1975 sein zweiter Sohn Sean geboren wurde, wandelte sich der umtriebige Popstar zum Hausmann und ging - auch eine Art von Avantgarde - trotz aller karrieretchnischer Warnungen in Elternzeit. Das Bild von Annie Leibovitz, auf dem er nackt in Embryo-Stellung um die angezogene Yoko Ono geschlungen ist, wurde zur Ikone der männlichen Verletzlichkeit. Das Foto ist nur wenige Stunden vor Lennons Tod entstanden.     


Andererseits war der Musiker sicherlich kein feministischer Heilsbringer. In einem Interview mit dem "Playboy" sprach Lennon 1980 unter anderem darüber, seine erste Frau Cynthia geschlagen zu haben. Die Zeile "I used to be cruel to my woman, I beat her and kept her apart from the things that she loved" aus dem Beatles-Song "Getting Better" (1967) nennt er autobiografisch. "Das war ich", sagt Lennon in dem Gespräch. "Ich war ein Schläger. Ich konnte mich nicht ausdrücken, also schlug ich [...]. Sehen Sie, deswegen rede ich ständig vom Frieden. Es sind die gewalttätigsten Menschen, die Liebe und Frieden suchen." 

Vor diesem Hintergrund mutet es umso absurder an, dass Lennon heute nach Belieben als Heiligen-Schablone verwendet wird. Er selbst war sich seiner Abgründe und der Grausamkeit gegenüber anderen offenbar sehr bewusst. Doch sein früher Tod hat die Ambivalenz der Person beseitigt und ihm Märtyrerzüge verliehen. "Imagine" klingt lauter nach als "Getting Better".  

Insofern ist die Frage, was Aktivisten heute von Lennon wollen, eine sehr komplexe. Und die Frage, was er selbst zu seiner Rezeption von verschiedenster Seite sagen würde, dann doch nicht mehr so relevant. Der Bezug, wenn man heute Lennon-Fahnen schwenkt oder "Imagine" anstimmt, ist keine reale Person, sondern eine vage Idee von Frieden und Freiheit, die nie konkret ausgestaltet wurde. Für Demokratie-Aktivisten in Hongkong bedeutet sie sicher etwas anderes als für die "Querdenker", die glauben, sich gegen eine "Corona-Diktatur" wehren zu müssen.

Es liegt im Wesen der Kunst, sich mit ihren großen Worten und Gesten stets im Dienste des Guten, Wahren und Schönen zu sehen. Dabei gerät aus dem Blick, dass die vermeintlich universelle "Imagine"-Erzählung beinahe unbegrenzt anschlussfähig ist - was wir gerade beobachten können. Man kann sich offenbar auch als Träumer fühlen, wenn man mit Rechtsextremen auf die Straße geht.   

Das ist nicht John Lennon anzulasten, und vielleicht gibt er in einem seiner letzten Songs vom Album "Double Fantasy" (November 1980) selbst die Antwort darauf, wie er zu den öffentlichen Reaktionen auf seine Person und seine Arbeit stand. "I'm just sitting here watching the wheels go round and round", singt er im Stück "Watching The Wheels", das mit einer Variation des "Imagine"-Klavierthemas beginnt. "No longer riding on the merry-go-round, I just had to let it go."