Aber natürlich ist das Kunst

Vor ein paar Monaten meldete sich der stille, bedachte Mann in einem Vortrag am New Yorker Museum of Modern Art ungewöhnlich heftig zu Wort. Es ging um die alte Frage, wann denn Fotografie Kunst sei, und Paul Graham beklagte die zunehmende Abwertung dokumentarischer Ansätze. Ein Großteil der Kunstwelt, sagte er, schätze den Modellbauer Thomas Demand, Jeff Wall mit seinen cineastischen Bildwelten oder Cindy Sherman, die in ihren Porträts selbst performe, „einfach weil der kreative Prozess in ihren Arbeiten deutlich zu sehen ist: Etwas wurde synthetisiert, aufgeführt, konstruiert oder inszeniert.“ Doch wie lasse sich dann bitte ein Gary-Winogrand-Foto erklären, wenn er „nur“ eine New Yorker Straßenszene aufgenommen habe?

Mit dieser Frage, so der Subtext, sieht sich auch Graham immer wieder konfrontiert. Eine beeindruckende Antwort gibt jetzt seine Retrospektive „Fotografien“ in den Hamburger Deichtorhallen. Es ist eine Kunst, das Leben selbst als Bühne zu sehen, es so überhaupt erst sichtbar zu machen. Farben und Kompositionen der elf großen Serien bleiben genauso im Kopf wie der überragende Eindruck, gerade ein Stück Zeitgeschichte, die 80er-, 90er- und Nuller-Jahre, durchlaufen zu haben. Am Ende herrscht fast ein bisschen Enttäuschung, dass Graham nicht noch ein paar Bilder von der Zukunft zeigt, so stringent erweist sich diese Ausstellung.

Aber der Reihe nach. Paul Graham, 1956 im englischen Stafford geboren, beleuchtet für seinen ersten Werkkomplex die Schnellstraße zwischen London und Edinburgh. „A1 – The Great North Road“ präsentiert Lkw-Fahrer oder die Bediensteten der Raststätten, die Farben erinnern an Stephen Shore, die Stimmung an Filme von Ken Loach. Thematisch ziemlich ähnlich: „Be­yond Caring“, eine Reihe über Wartesäle von Arbeitsämtern. Graham unterstreicht die Perspektivlosigkeit der Protagonisten, indem er die Kamera nah am Boden hält, seine Aufnahmen gehen jedoch von Beginn an über Sozialstudien hinaus. Einem Bildhauer gleich achtet er auf die Verteilung der Körper im Raum. Oder ein Arm ragt in die Fotografie wie das entscheidende Detail einer Kurzgeschichte. Trotz dieser Kunstgriffe ist immer klar: Wir befinden uns im Thatcher-Jahrzehnt, sehen die Spuren einer inhumanen Politik. Die Gräben sind tief, und Graham weiß, wo er steht.

Die 90er bringen ein grundsätzliches Infragestellen seiner Gewissheiten. Graham bereist Japan, den europäischen Kontinent und die USA, variiert seine Formate, ordnet Bilder auch mal zu Diptychen, wird insgesamt freier, globaler, unberechenbarer. „End of an Age“ dokumentiert abgefeierte Gesichter der Generation Love-Parade in verschwommenen Seitenansichten und überstarken Farbkontrasten, als sollte die Gültigkeit der Porträts gleich wieder unterlaufen werden. In den gezielt überbelichteten Fotografien von „American Night“ tauchen Obdachlose und Vorstadtghettos wie unter einem weißen Schleier auf. So klar wie in den 80er-Jahren liegen die Dinge nicht mehr.

In den USA, wo Graham seit 2002 lebt, nahm er ab 2004 auch die Arbeit an seinem wohl bekanntesten Großprojekt auf, „A Shimmer of Possibility“, einer Serie, die aus weiteren Untersequenzen besteht, von denen jede eine beiläufige Story erzählt. Ein Mann beim Rasenmähen, ein Paar, das Colaflaschen vom Supermarkt nach Hause trägt, ein nächtlicher Blumenverkäufer an einer Straßenkreuzung. Es gibt keinen Höhepunkt, keinen entscheidenden Augenblick, das Vorher bedeutet so viel wie das Nachher. Fundamentale Ungewissheit über Ort und Zeit, drei Jahre nach 9/11.

Ganz am Ende der von Ute Eskildsen kuratierten Schau ist die Chronologie der Serien unterbrochen. Drei Bilder in Gerhard-Richter-Grau hängen dort, sie stammen aus der Reihe „Ceasefire“, zu Deutsch: Waffenruhe. Paul Graham hat 1994 in Nordirland den Himmel fotografiert, als am Boden Krieg herrschte.

Deichtorhallen, Hamburg, bis 9. Januar 2011. Die Berliner Galerie Carlier Gebauer zeigt zudem Teile der Serie "Beyond Caring", bis 4. Dezember