Achtung, Allegorien! Neapel sucht mit Barock etwas bemüht nach einer Klammer zur Jetztzeit

Egal aus welcher Richtung der Besucher sich dem Museum nähert – dort angekommen, ist er an so viel Geschichte vorbeigelaufen, dass er sich selbst sehr alt fühlen könnte. Doch wild ist diese Stadt – nicht allein wegen ihres berühmten Mülls und der Camorra. Caravaggio, der Künstler, der Hustler, floh zweimal hierher, weil er in Rom Ärger hatte, und auch der Barock, den er nicht mehr mitbringen musste, war in Neapel freier, finsterer und weniger fromm als im Norden. Wenn der Besucher also das Museo d’Arte Contemporanea DonnaREgina (MADRE) betritt, ist er im besten Fall schon eingestimmt auf Gegenwartskunst, die irgendwie barock – sensationell, sinnlich und abartig – sein soll. Er wird das brauchen, Einfühlung.

„Barock – Art, Science, Faith and Technology in the Contemporary Age“ läuft parallel zur großen Schau mit neapolitanischen Barockwerken in sechs weiteren Museen (bis 11. April). Das MADRE setzt bei der Neoavantgarde und Postmoderne an, auch wenn man das nur aus dem Katalog erfährt. „Mit ‚Barock‘ wollen wir sagen, dass das 20. Jahrhundert, von dem wir nicht loskommen, Forschung und Experiment ist“, heißt es vom kuratierenden Museumsdirektor Eduardo Cicelyn, der tatsächlich hängen geblieben ist, nämlich auf den abgestandenen Begrifflichkeiten der Post­mo­derne. Alles soll hier Spiel mit Simulakren sein und Eklektizismus. Und Täuschung sei auch im Barock überreichlich zu finden, so die Ausgangsüberlegung.

Das stimmt vielleicht. Aber was hat die­se Epoche nicht so alles zu bieten! Lange tat sich die Geschichtsschreibung schwer mit dem 17. und frühen 18. Jahrhundert, in denen nichts mehr so aufgeräumt erscheint wie in der vorangegangenen Renaissance und dem nachfolgenden Klassizismus. Mit sturen Regeln wollten der krude Barock und sein gedankenloser Bruder Rokoko nichts zu tun haben. Und die Gegenwartskunst zum Glück auch nicht. In dieser groben Charakterisierung finden die Zeiten zueinander. Die Moderne wäre also nicht unsere Antike, wie die vergangene Documenta es noch einmal propagierte, sondern unsere Renaissance.

In der Eingangshalle des Palazzo Donna­Regina thront ein von Damien Hirst erst kürzlich eingelegter Hai. Das offene Maul, das labbrige Fleisch. Auf barocken Vanitas-Stillleben sollte die Darstellung von Verfall und Tod an die eigene Hinfälligkeit erinnern. Es mag ein wenig gefällig sein, mit Hirst die Ausstellung zu eröffnen, doch er ist der bekannteste Künstler, der heute noch an dem im Barock so beliebten Prinzip Allegorie festhält. Nur setzt er dazu echten Tod ein und nicht dessen Abbild. Und hier beginnt der Sinn einer waghalsigen These wie der vom gegenwärtigen Barock: Sie ermöglicht einen neuen Blick auf scheinbar bekannte Werke.
Prominente Künstler zeigt diese Schau genug: Jeff Koons, Maurizio Cattelan, Cindy Sherman, Jeff Wall. Das 2005 eröffnete MADRE sammelt nahe am Mainstream, und vielleicht ist das genau das Richtige für Süditalien, das nicht so recht Anschluss suchte an den zeitgenössischen Kunstrummel und sich sogar über ein Hermann-Nitsch-Museum freut.

Der Besucher könnte die in „Barock“ ausgestellte Kunst also auch als Zeitdokumente des irren Jahrzehnts lesen, das wir endlich hinter uns gebracht haben: seine Hysterie, sein Verschwendertum, prachtvolle Repräsentation bei unstabiler Weltsicherheitslage, die Macht der Mäzene – barocco! Jeff Koons’ Ausstellung 2008 im Schloss Versailles oder auch Sofia Coppolas Film „Marie Antoinette“ haben die Fährte gelegt, die man im MADRE weiterverfolgen kann.

Warf im Barock der 30-jährige Krieg einen Schatten auf alles Schaffen, sind es heute der Horror des 20. Jahrhunderts und die asymmetrischen Schlachten der vergangenen Jahre. Jake und Dino Chapmans Vitrinen mit Kriegsszenarien füllen einen beeindruckenden Raum im MADRE. Von Gilbert & George sind großformatige Arbeiten zu sehen, die den Zusammenhang von Terror, Medien und Religion bebildern. Shirin Neshat, Matthew Barney, Adel Abdessemed zeigen Gewalt und wie sie Körper fragmentiert.

Nach dem Mittelalter zerpflückten die kopernikanische Wende und Galilei das Menschenbild, heute Nanotechnologie und Bioinformatik. Carsten Nicolai und Bianco-Valente setzen sich mit Wissen und Wissenschaft auseinander – abstraktere, konzeptuellere Werke unter den vielen erzählenden, illustrativen Arbeiten dieser Ausstellung.

„Barock“ braucht die inhaltlichen Verweise, um die verschiedenen Cliquen und Strömungen – von der „Pictures“-Generation über Young British Art bis zu den Künstlern der Relational Aesthetics – zu klammern. Nur der Gedanke an die Epoche Barock lässt versuchsweise eine eigentlich unmögliche historische Perspektive auf die Gegenwart zu, eine Entfernung vom Heute, die Differenzen einschmilzt.

Doch der Ausstellung gelingt es nicht vollends, die Parallele zur Geschichte deutlich zu machen. Vielleicht hätte eine direkte Gegenüberstellung mit originalen Barockwerken geholfen. Oder eine starke Umgebung: In der angeschlossenen gotischen Kirche Donnaregina Vecchia hängt über dem Altar eine lebensechte Wachspuppe von Cattelan. Eine Gekreuzigte im Krankenhemd, die das Gesicht vor dem Betrachter verbirgt (die Arbeit entstand 2008 für die Synagoge in Pulheim-Stommeln).

Diese Schmerzensfrau gibt auch eine schöne Allegorie auf die Gegenwart ab: Sie liegt vor einem, zum Greifen nah, man sieht jedes Detail – und erkennt doch nicht ihr Wesen. Die zeitgenössische Kunst ist genauso neobarock wie neomodern, neoschamanistisch wie neokonzeptuell. Sie ist mit Ausstellungen wie „Barock“ nicht zu fassen.