Anouk Lamm Anouk in Wiesbaden

Utopie auf Leinwand

Das Frauenmuseum Wiesbaden zeigt die erste institutionelle Soloschau von Anouk Lamm Anouk – und entführt in meditative Welten voller Liebestiere, Empathie und Sternenstaub

"No Age. No Gender. No Origin", so lautet der Titel von Anouk Lamm Anouks Manifest. Alterslos, geschlechtslos, herkunftslos. Tatsächlich wirkt Anouk mit dem zarten Teint und den langen, blonden Haaren ein bisschen aus der Welt gefallen – wie eine Elfe, der zufällig ein modischer Zweiteiler in die Finger geraten ist. 

Seit einigen Jahren schon kursiert der Name in der Kunstwelt: 2021 erhielt Anouk den Strabag Art Award, seitdem folgten Ausstellungen in Berlin, Wien, Salzburg, Gstaad, Warschau und Turin – und die Arbeiten erzielen mittlerweile fünfstellige Summen auf dem Markt. In diesem Jahr war Anouks Werk außerdem erstmalig im Programm der Galerien König und Patricia Low Contemporary in Seoul zu sehen, darunter die Serie "Post/pre" und die 2023 entstandene Installation "The Herd N°1", in der eine Ponyherde aus PVC-Folie gen Himmel zu steigen scheint.

40 Arbeiten aus der (unverkäuflichen) Privatsammlung Anouks vereint nun eine Ausstellung im Frauenmuseum in Wiesbaden. Es ist nicht das erste Mal, dass die 1984 gegründete Institution non-binären Positionen eine Plattform bietet. Bereits Anfang der 2000er Jahre stellte die 2017 verstorbene Medien-Künstlerin Silke Witzsch in der Ausstellung "Who Is Who" Fragen nach geschlechtlicher Identität und deren Verortung. 2019 bespielte Amnesty International anlässlich des Intersex Awareness Days die Räumlichkeiten des Hauses mit der Schau "Jede*r hat ein Geschlecht: das eigene". Sechs Personen teilten in der Ausstellung ihre Erfahrungen mit Non-Binarität und ihre Wünsche nach politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. 

Vision einer neuen Gesellschaft

Und nun, vier Jahre später, ist es der österreichische Shootingstar, der auf den drei Etagen des Hauses seine bisher größte Überblicksausstellung und erste museale Soloschau präsentiert. Auch hier sind es Fragen nach Identität und Sichtbarkeit von queerer Sexualität, die gestellt werden, aber auch nach einer möglichen neuen Gesellschaft, abseits der gängigen patriarchalen Strukturen.

Wie könnte diese aber aussehen? Wenn man sich die Gemälde Anouks ansieht, möchte man meinen: zurückgenommen, reduziert, harmonisch. Gold-, Schwarz- und Weiß-Nuancen, aber vor allem erdige und natürliche Töne dominieren die Werkserien. Stoisch gezogene Kreise und wiederkehrende bogenförmige Elemente in weißer Farbe tun sich auf den Gemälden auf wie Portale in fremde Welten. Und dann gibt es immer mal wieder vereinzelte farbige Flächen, Linien und Tupfen, die sich in die ansonsten recht kahlen Landschaften aus ungrundiertem belgischen Leinen verirren. 

Ein kleiner grüner Fleck, zum ersten Mal sichtbar auf dem im Jahr 2020 entstandenen Gemälde "Mädchen kümmert sich (Faultier und Geist)", weist auf einen ersten Schritt in Richtung Farbigkeit hin. Und als würde Anouk sich nun sicher fühlen mit dem Farbton, taucht er fortan häufiger auf, füllt auch größere Teile der Leinwände, wie die des Gemäldes "Post/pre N°10" von 2022. Später sind es auch Blau- und Rotnuancen, die beim Gang durch die Ausstellung aufblitzen, aber immer zaghaft und sparsam eingesetzt.

Lesbisches Begehren, Jazz und tierische Protagonisten

In der Werkserie "Lesbian Jazz", von der gleich zehn Arbeiten in der Schau zu sehen sind, tauchen schließlich auch menschliche Figuren auf: gesichtslose, ineinander verschlungene weibliche Körper, eingebettet in eine abstrakte Umgebung. Es sind Szenen lesbischen Begehrens, die trotz ihrer Explizitheit subtil und weltentrückt erscheinen. 

Anouk improvisiert diese mit fließenden Linien auf der Leinwand – wie eine melodische Jazz-Sequenz, die sich genauso spontan und unvorhersehbar ergeben wie das Zusammentreffen zweier leidenschaftlicher Leiber. "Ich wollte Jazz in abstrakte Malerei übertragen und mit lesbischer Sichtbarkeit kombinieren", so Anouk. "Lesbische Sichtbarkeit ist sowohl gesellschaftlich als auch in der Kunst stark unterrepräsentiert. Sichtbarkeit ist ganz wichtiges Element zur Normalisierung."

Meist sind die Protagonisten der Werke jedoch tierischer Natur. Bisons, Kaninchen und Lämmer, letztere schleichen sich besonders häufig ein. In dem 2017 entstandenen Diptychon "I miss the place where I am from", der frühesten in der Schau zu sehenden Arbeit, haben sie ihre Köpfe einander zugewandt, kleine Herzen vor ihren Mündern wie Sprechblasen. Einige der tierischen Darsteller sind deutlich auszumachen – wie die beiden fast lebensgroßen Pferdeskulpturen und das Faultier in "Mädchen kümmert sich". Manchmal meint man, schemenhaft Sirius Grace und Moon Fawn zu erkennen, den Yorkshire-Terrier und die adoptierte bulgarische Straßenkatze der Künstler:in. Und manchmal finden sich die schwarzen Linien zusammen wie Quallen im Meer, die mit den anderen Tierwesen in harmonischer Gemeinschaft zusammenleben.