Autostrada Biennale im Kosovo

Alles andere als eine Einbahnstraße

Die Autostrada Biennale will im kosovarischen Prizren nachhaltige Infrastrukturen für Kunst schaffen. Bei ihrer vierten Ausgabe gelingt ihr das mit wandernden Bildern, viel Euphorie und Optimismus

Vor sechs Jahren riefen Vatra Abrashi, Leutrim Fishequi und Barış Karamuço, drei junge Kulturschaffende aus dem kosovarischen Prizren, die Autostrada Biennale ins Leben. Diese machte es sich zur Mission, in der von militärischem Konflikt und Abwanderung gezeichneten Region wieder kulturelles Leben entstehen zu lassen und insbesondere für junge Menschen nachhaltige Infrastrukturen für Produktion und Weiterbildung zu schaffen. Mit dem Titel sollte die Biennale im kulturell peripheren Prizren ironisch-metaphorisch auf der Autobahn zwischen den Biennalen von Istanbul und Venedig verortet werden. Gleichzeitig wurde ganz bewusst ein Gegenmodell zu der antiquiert-elitären Veranstaltung in Venedig gesucht, sowie zu Standortmarketing-Events à la Manifesta – der europäischen Wanderbiennale, die 2022 in Kosovos Hauptstadt Pristina stattfand.

Der Hauptschauplatz liegt auf dem ehemaligen Nato-Stützpunkt der deutschen KFOR-Truppen, die nach dem Krieg für ein sicheres Umfeld für die Rückkehr von Flüchtlingen in den Kosovo sorgen sollten. Nach Abzug der deutschen Kräfte wurde aus dem Gelände ein Innovations- und Trainingspark (ITP). Die Autostrada-Initiatoren bewarben sich 2017 um einen der leerstehenden Hangars – inzwischen werden insgesamt vier davon von der Biennale als Ausstellungshallen, Besucherzentrum, Bildungsstätte und Werkstatt genutzt. Ein Großteil der Arbeiten wird dort vor Ort neu produziert.

Die vierte Ausgabe macht sich unter dem Titel "All Images Will Disappear, One Day" auf die Suche nach dem Nicht-Archivierbaren, den fragilen Bildern und mündlichen Überlieferungen im kollektiven Gedächtnis. Es ist bereits die zweite, die von den in Berlin lebenden Kuratorinnen Övül Durmusoglu und Joanna Warsza verantwortet wird. Deren Zusammenarbeit begann im Frühjahr 2020 während der Pandemie mit dem Projekt "Die Balkone" im Prenzlauer Berg – der Gedanke sozialer Vernetzung und Gemeinschaft konnte sich auch im Kosovo erfolgreich fortsetzen. Ein Großteil der Künstler und Künstlerinnen kommt aus der Balkanregion, internationale Positionen fehlen jedoch auch nicht. Wie bereits in der vorausgegangen Ausgabe streckt die Biennale ihre Fühler in zwei weitere Städte im Kosovo aus und lässt dabei Projekte durch Zeit und Raum wandern.

Sonnenblumen und Ruinen

Neben dem ersten Autostrada-Hangar blüht erneut Agnes Denes‘ vor zwei Jahren an anderer Stelle initiiertes "Sunflower Field" – ein optimistisches Bild natürlicher Energie. Wenige Meter von den gelben Blumen entfernt hat das aus der Ukraine stammende Open-Group-Kollektiv ein dreifarbiges Gespinst aus sich überlagernden geometrischen Linien auf den Zement gemalt. Bei der konstruktivistisch anmutenden Zeichnung handelt es sich um die Grundrisse dreier kleiner kommunaler Museen aus den Regionen Charkiw, Kiew und Sumy, die im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zerstört wurden und hier im Maßstab 1:1 zu einem verschachtelten Imaginationsraum übertragen wurden.

Während dort der gewaltsame Verlust von Kultur schmerzhaft spürbar wird, kann die 2004 begonnene Fotoserie "On Vacation…" von Luchezar Boyadjiev als humorvolle Antwort auf die Demilitarisierung ihres jetzigen Standorts gelesen werden. Aus den auf öffentlichen Plätzen in aller Welt aufgenommenen Fotos von Reiterstandbildern hat Boyadjiev die in der Regel männlichen Könige, politischen Führer und Feldherren digital wegretuschiert – was bleibt, ist eine stolze Reihe reiterloser Pferdeskulpturen.

Die weitgehend monochrom gehaltenen Materialbilder des 1934 in Peja geborenen, abstrakt-expressionistischen Malers Xhevdet Xhafa, in die er Kleidungsstücke und anderes einarbeitet, sind alle mit "Autobiografia" (seit 1960) betitelt. Man könnte sie sich auch, im Museum of Modern Art vorstellen, etwa im Dialog mit den "Achromes" von Piero Manzoni. Dass sie dort nicht zu finden sind, ist ein Beispiel für das oft willkürliche Wertschöpfungsraster der westlichen Kunstgeschichte. Stattdessen behaupten sie sich hier neben den auf die Motorhauben von demolierten Mercedes-Modellen gemalten Frauenporträts der ebenfalls aus dem Kosovo stammenden Roma-Künstlerin Selma Selman und den wütenden Graffiti und Selbstporträts der jungen bosnischen Künstlerin und Stand-up Komödiantin Mila Panić – und auch das ergibt Sinn.

Eine klaffende Lücke, wo eben noch Kunst war

In den verwinkelten Straßen Prizrens werden lokale Geschichten des Widerstands sichtbar: Darinka Pop-Mitić lässt Szenen aus dem Leben der feministischen Lehrerin und Antifaschistin Didarja Dukakjini an Orten ihres Wirkens in Miniaturfresken und Anschlägen an Strommasten nachzeichnen, und Blerta Haziraj begibt sich auf die Suche nach den weitgehend verlorenen Spuren der Antifaschistischen Frauenfront des Kosovo.

Eine Anlaufstelle ist auch die heute geschlossene Vatra Gallery, 1991 gegründet von Adnan Abrashi und benannt nach seiner Tochter, der Mitbegründerin der heutigen Biennale. Hier befand sich ein widerständiger Kulturort in dem durch die serbische Annexion angespannten Klima politischer und kultureller Repression. An der Fassade des benachbarten Hauses hat Gözde İlkin ein Banner angebracht, in dem sie gebrauchte Textilien und Pflanzenmotive aus der unmittelbaren Umgebung zu einer intimen Erzählung des Ortes zwischen Innen und Außen verknüpft.

Wenige Meter weiter wurde eine weitere dieser Arbeiten unfreiwillig zum Sinnbild der Auslöschung: Das leerstehende alte Haus, an dem sie angebracht war, war in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mitsamt des Kunstwerks abgerissen worden; in der klaffenden Lücke rumorte noch die Baggerschaufel – aufgrund ungeklärter Besitzverhältnisse verschwinden nicht nur Bilder, sondern auch urbane Strukturen und ihre Geschichte.

Neue Symbole

Dass Abwesendes auch Raum für neues schaffen kann, zeigt in überwältigender Schönheit die skulpturale Intervention von Neda Saeedi auf dem League Square. An einer Stelle, wo sich antike, osmanische und modernistische Architekturen überlagern, steht ein weißer, quadratischer Rahmen, in dessen kreisförmig ausgeschnittener Mitte sich eine Bronzestatue befand, die sechs antifaschistische Märtyrer des Zweiten Weltkriegs ehrte, doch nach der Machtergreifung Miloševićs zerstört wurde. In das Loch hat Saeedi nun eine Netzhaut aus farbigem Glas installiert. Die leere Skulptur wird so zum Auge, das aus der Vergangenheit in die Zukunft blicken soll. In den kaleidoskopischen Formen sind sechs Amseln zu erkennen – jene Vögel, die immer wieder in ihre Heimat zurückkehren und dem Kosovo seinen Namen gaben.

Auch diese handwerklich herausfordernde Arbeit wurde in der Hangar-Werkstatt hergestellt. Am Eröffnungstag posieren alle daran Beteiligten stolz und glücklich vor "ihrem" Werk, am Abend veranstaltet das Restaurant nebenan vor der neuen Kulisse ein Konzert – selten sah man zeitgenössische Kunst so schnell im öffentlichen Raum "ankommen".

Auf der anderen Seite des Lumbardhi-Flusses, der den historischen Stadtkern am Bergfuß teilt, setzt sich der Parcours an weiteren Orten fort, die für die multiethnische Geschichte Prizrens stehen. Etwa das unter Renovierung stehende jüdische Kulturzentrum zwischen Kirchen und zahllosen Moscheen, dessen Fassade Michael Rakowitz mittels der schützenden Plane in das Bild eines irakisch-jüdischen Gebetbuchs aus dem Familienbesitz verwandelt. Auf der wie vom Wind aufgeschlagenen Seite ist das arabische Wort "Allah" in hebräischer Schrift zu lesen – Zeugnis einer arabisch-jüdischen Identität, deren Existenz oft verleumdet wird. Oder die ehemalige, in einem Gebäude der katholischen Kirche untergebrachte Station von Radio Prizreni, wo Nathan Grey mit der Juluwarlu Group Aboriginal Corporation ein Oral History-Archiv des australischen Yindjibarndi-Volkes als Radiostation installiert hat.

Weiter auf der Autostrada

In einer stillgelegten Ziegelfabrik in Pristina visualisiert Hera Büyüktaşciyan ehemalige Wasserwege, essenzielle Lebensadern in den Städten des Kosovo, die jedoch im Zuge der Industrialisierung weitgehend eliminiert wurden. Die Installation aus blauem Tuch und Ziegeln ist eine modifizierte Version der Arbeit von 2021, wo sie ausgehend von der alten Festung in Prizren zu einer Art Wahrzeichen der Biennale wurde.

Und auch in Mitrovica, der immer noch zwischen Kosovo und Serbien geteilten Stadt im Norden, migrieren die Bilder weiter: Alban Muja hat ein in den 1970er-Jahren auf dem Hauptplatz seiner Geburtsstadt errichtetes sozialistisches Monument für "Arbeit, Gleichheit und Bildung", das 2010 entfernt und seitdem verschollen ist, 2021 erst in einer verkleinerten Version in Prizren, und nun in Originalgröße am Originalstandort wieder errichten lassen.

Dabei geht es natürlich weniger um Nostalgie für die Bilder und Ideologien einer vergangenen Ära, sondern um die Widerständigkeit der Kunst und ihr Potential, Verdecktes aufzuspüren, Leerstellen zu schließen und Kontexte umzudeuten. Dass dies gelungen ist, zeigt nicht zuletzt der Enthusiasmus der vielen jungen Menschen, die auch in den Jahren zwischen den Biennalen in den Hangars produzieren, als Vermittler der Ausstellungen fungieren und ihr Wissen weitergeben. Auch die Bilder werden weiter wandern, neuen Bildern Raum geben und eventuell an anderer Stelle in einer anderen Zeit wiederauftauchen – eine Einbahnstraße ist die Autostrada Biennale mit Sicherheit nicht.