LGBTQI+-Ausstellung in Istanbul

Rette die Nacht vor der Dunkelheit

"Narrative Power Alliance" heißt die aktuelle Schau im soziokulturellen Zentrum Barın Han in Istanbul. Sie zeigt eine neue Generation kritischer Macher und will der immer aggressiveren anti-queeren Stimmung in der Türkei etwas entgegensetzen 

"Perverse Ideologie". Recep Tayyip Erdoğan war mal wieder in seinem Element, als er sich Mitte Januar auf die LGBTQI+-Bewegung einschoss. In Ankara rief der türkische Staatspräsident 2025 zum "Jahr der Familie" aus. Heftig attackierte der martialische Muslim die queere Community als Teil einer ausländischen Verschwörung, die das Ziel habe, die türkische Gesellschaft zu untergraben. Zeitgleich kündigte der vor "maskuliner Energie" (Mark Zuckerberg) seit jeher nur so strotzende Staatschef ein Maßnahmenpaket an, das junge Familien unterstützen soll – von der Kinderbetreuung über zinslose Darlehen bis zu Wohnungshilfen. Überall im Land künden Plakate von der Kampagne.

Es hat etwas vom Kampf David gegen Goliath, wenn ungefähr zu gleichen Zeit eine Gruppe von Aktivistinnen und Künstlern in Istanbul eine kleine Ausstellung eröffnete, die demonstrierte: Präsidiale Donnerworte schrecken uns nicht, es gibt auch andere geschlechterpolitische Vorstellungen. So schnell geben wir nicht auf. 

Mutig war das auch deshalb, weil der Istanbuler Gouverneur erst im Juli 2024 die Schau "Dön Dün Bak / Turn and See Back: Revisiting Trans Revolutions in Turkey" im Depo unweit des Galata-Turms hatte schließen lassen. Diese hatte die Geschichte der queeren Bewegung in Erinnerung gerufen. Das alte Tabakwaren-Lager war 2008 von dem seit fast 2700 Tagen inhaftierten Philanthropen und Kunstmäzen Osman Kavala als Kunstort eingerichtet worden. Seit 2015 werden in unschöner Regelmäßigkeit die jährlichen Pride-Märsche von der Polizei niedergeknüppelt. Die Streaming-Seite Mubi hatte vergangenen November ihr Internationales Istanbuler Filmfestival abgesagt, nachdem Regierungsbeamte eine geplante Vorführung des neuen Films "Queer" mit Daniel Craig als schwulem Expat in Mexiko verboten hatten: als "Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens wegen provokativen Inhalts".

Furchtlose Allianzen auf der Halbinsel

"Anlatı Gücü İttifakı / Narrative Power Alliance" nennt sich nun die neue Schau in dem soziokulturellen Zentrum Barın Han auf der anderen Seite Istanbuls. Sie will der immer aggressiveren Anti-Gender-Stimmung in ihrer Heimat etwas entgegensetzen. Das schmale, fünfstöckige Gebäude in Çemberlitaş, auf der historischen Halbinsel Goldenes Horn gleich hinter dem Bazar, diente jahrzehntelang als Atelier des führenden republikanischen Kalligrafen und Buchbinderkünstlers Emin Barın. Seit 2019 bietet es Raum für Ausstellungen, Künstlerworkshops und Treffen. 2022 hatten es die Kuratorinnen Ute Meta Bauer, Amar Kanwar und David Teh als Spielstätte ihrer nach dem Vorbild der Documenta Fifteen kuratierten 17. Istanbul-Biennale erstmals für die Kunstwelt erschlossen.

Die furchtlose Allianz, die die Schau initiierte, umfasst Gruppen wie das Ankaraer Demos Research Collective für Frieden und demokratische Alternativen, die 2018 als erste muslimisch-feministische Frauenvereinigung gegründete Initiative Havle oder KuirGaming, eine LGBTQI+-Plattform, die gegen Hassrede, männliche Sprache und Diskriminierung im digitalen Raum entwickelt wurde. Zwölf Positionen haben Alper Turan und Onur Karaoğlu, die Kuratoren der Schau, in dem Ausstellungsraum des Barın Han versammelt. Sie reichen von dokumentarisch-archivalischen Arbeiten über Foto-Assemblagen bis zur "reinen" Kunst.

Der Künstler Serdar Soydan hat aus alten Archiven ausgegrabenes Material zu Performern, Tänzern und Schauspielern wie Adnan Pekek, Zenne Necdet oder Kudret Şandra auf einem von der Decke hängenden Installationsdreieck ausgebreitet. Soydan stellt die Frage, an wen erinnert wird und an wen nicht. Seine Subjekte standen im Schatten der alles überragenden, proto-queeren türkischen "Sonne der Kunst", dem Sänger Zeki Müren. In zwei anderen Ecken erinnert das Trans Hafıza Kolektifi (Trans Memory Collective) mit einer Folge von Action-Videos an die Trans- und Pride-Märsche in der Türkei von 1987 bis 2025 und an die vielen Publikationen und Fanzines der Bewegung. Fatma Belkis schreibt die Selbstverteidigungsgeschichte einer sexuell belästigten Frau in Broschürenformat.

Zeit für neuen Humor und Intellekt

Das aus dem Jahr 2019 stammende Aktivistenbanner "The Aids Crisis Is Still Beginning" ist ein Werk des Künstlers, Schriftstellers und Mitbegründers der Act-Up-Bewegung in den USA, Gregg Bordowitz, der heute als Videoprofessor am Chicagoer Art Institute lehrt. Seine Arbeit haben die Kuratoren ins Türkische übersetzen lassen: "AIDS KRIZI Hâlâ Başliyor" heißt es in Istanbul. Seit kurzem steigen die Zahlen der an einer HIV-Infektion Erkrankten in der Türkei besorgniserregend an.

Alper Turan und Onur Karaoğlu zeichnet nicht nur aus, dass sie selbst den Bewegungen entstammen, denen sie demonstrativ einen Raum öffnen und Sichtbarkeit ermöglichen. Sie sind auch zwei markante Gesichter eines überfälligen Generationenwechsels in der türkischen Kunstwelt. Jahrzehntelang war diese von Matadoren wie Beral Madra, der legendären, heute über 80-jährigen Gründungsfigur der Kunstwelt am Bosporus oder ihrem ewigen Antipoden Vasif Kortun, dem ehemaligen Direktor des interdisziplinären Kunstinstituts Salt, geprägt worden. 

Die neue Generation ist deutlich jünger, zumeist queer, hochintelligent, trotz der restriktiven Bedingungen in der Türkei ziemlich lustig und international vernetzt. Sie hängt nicht mehr sklavisch an ihrer Heimat und balanciert lustvoll auf dem Seil zwischen Hoch- und Subkultur.

Die Attitüde des Switchens

Der studierte Soziologe Onur Hamilton Karaoğlu arbeitet als Theatermacher, Video- und Performancekünstler. Einige Zeit war er Direktor des vom türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk gegründeten und nach dem Titel von dessen Roman benannten "Museum of Innoncence". Auch in New York hat er schon Theater gemacht. Ende letzten Jahres erforschte Karaoğlu die queere Szene der deutschen Hauptstadt: als erster Stipendiat des kürzlich in Berlin von einer privaten Initiative ins Leben gerufenen Förderprogramms "Strüktür" für Künstlerinnen und Künstler "from the geography of Turkey". 

So wie Alper Turan, 1993 in Ankara geboren, zwischen den USA, Kanada, Berlin und seiner Heimat switcht, ist das typisch für die interdisziplinäre, internationale Attitüde dieser neuen Künstler- und Kuratorinnen-Generation. 2020 bis 2024 arbeitete der theorieverliebte Intellektuelle für das interkulturelle Protocinema-Projekt in Istanbul, schrieb Texte und kuratierte schwer philosophisch befeuerte Ausstellungen. Danach wechselte er zum Whitney Museum Independent Study Program, promoviert gerade in Toronto und erhielt kürzlich das General Idea Fellowship der National Gallery of Canada in Ottawa. 

Turan hat den Sprung in die internationale Szene geschafft. In eine Offenheit, von der viele träumen, die der ideologischen Enge der vom Damoklesschwert der Zensur bedrohten und von Oligarchen abhängigen Kunstwelt in Istanbul zu entfliehen versuchen. Trotzdem, so erzählt er es, fühle er eine Verantwortung, auch in der Türkei weiter Ausstellungen zu kuratieren.

Gestische Kritzeleien

Neben Karaoğlu oder Turan zählt auch Ulya Soley aus dem privaten Istanbuler Pera Müzesi zu den spannenden neuen Gesichtern. Neben ihrem Museumsjob tritt die in Kanada und Großbritannien ausgebildete Kulturwissenschaftlerin als DJ im queeren Istanbuler Nachtleben auf, dessen Widerstandsqualitäten sie jüngst auch in einem eigenen Forschungsprojekt zusammen mit dem Architekten Yelta Köm untersuchte. Wie sehr die Versuche noch in den Kinderschuhen stecken, der narrative power der staatlich gepushten Anti-Gender-Bewegung via Kunst eine eigenständige Erzählung entgegenzusetzen, zeigt Zeyno Pekünlüs Arbeit "Connections Possibilities Significances" in der Istanbuler Schau. 

Die gestischen Kritzeleien, die während der vielen Beratungen der "Narrative Power Alliance" beiläufig auf Notizblöcken oder in Doodles entstanden sind, hat die Video- und Installationskünstlerin auf sechs Digitalprints isoliert und vergrößert. Sie sind zwar eine schöne Metapher für eine anti-hegemoniale Sprache jenseits des strukturierten Textes. Wofür sie im widerständigen Alltag wirklich taugen, muss sich freilich erst noch erweisen.

Es wird substantiellere Praktiken brauchen, bis sich die in Sachen Gender reichlich binär strukturierte Türkei den fließenden Identitäten öffnet, die die LGBTQI+-Bewegung trotz aller Widrigkeiten am Bosporus unverdrossen vorlebt. Und für die die Fotografin Üzüm Derim Solak das wohl schönste Bild in der Ausstellung gefunden hat.

Träumerische Gegenerzählung am Bosporus

"Save The Night from Darkness" hat sie ihr Bild genannt, auf dem sich eine trans Frau und ein nichtbinärer Mann gegenüberstehen und in die Augen schauen; beide haben sanft einen transparenten Schal um die Schultern gelegt, hinter ihnen die ikonische Kulisse der erleuchteten Bosporus-Brücke, die zwei Kontinente verbindet. Solaks Werk triggert gleichsam träumerisch eine Gegenerzählung: Neben der Hoffnung auf eine andere, gleichberechtigte Begegnung der Geschlechter ruft es auch die 2011 in der türkischen Metropole verabschiedete Istanbul-Konvention auf, die auch die Rechte von trans und queeren Menschen schützen sollte. 2022 kündigte die Türkei das Abkommen.

Die visuell prägende Kraft des suggestiven Schwarzweiß-Fotos ist enorm. Man darf gespannt sein, wie lange das Sehnsuchtsbild diesmal die Kontrastfolie zum offiziösen "Jahr der Familie" im Reich des Recep Tayyip Erdoğan abgeben darf.