Manifesta-Kurator im Interview

"Das Ausmaß der Industrialisierung beweisen"

Herr Medina, Sie sind als Wissenschaftler, Kritiker und Kurator tätig und haben bereits viele große Ausstellungen umgesetzt, unter anderem kuratierten Sie den mexikanischen Pavillon mit der Künstlerin Teresa Margolles für die Biennale in Venedig 2009. Wodurch unterscheidet die Manifesta sich von Ihren bisherigen Projekten?
Da gibt es einige Unterschiede. Als leitender Kurator des Projekts muss ich sehr viele Bereiche kontrollieren, und es werden wesentlich mehr Ansprüche an mich gestellt. Manifesta ist ein wanderndes Ausstellungsprojekt, das heißt, dass es seine Struktur ständig neu definieren und aufbauen muss. Als Kurator bin ich auch für die Entwicklung dieser Struktur zuständig. Das umfasst nicht nur die Anforderung, eine inhaltlich interessante Ausstellung auf die Beine zu stellen, sondern auch die Klärung vieler technischer Fragen. Außerdem nähere ich mich dem Projekt als Ausländer.

Wie schauen Sie denn als Mexikaner auf Limburg?
In meinen bisherigen Projekten habe ich mich überwiegend mit Künstlern und kulturpolitischen Inhalten Lateinamerikas beschäftigt. Als Mexikaner hatte ich dabei einen klaren Ausgangspunkt, um mich diesen Fragen zu nähern. In Limburg versuche ich, in einer kulturellen und wirtschaftlichen Vergangenheit, die nicht meine ist, zu interagieren und zu vermitteln. Ich habe meine Laufbahn ursprünglich als Historiker begonnen. Das Projekt hat sehr viel mit der Art der Auseinandersetzung mit Ideen und Fragen zu tun, die ich mir als Historiker antrainiert habe.

Was ist Ihr größtes Ziel für die Manifesta 9?
Zunächst hoffe ich, dass die Manifesta 9 eine konsequente und in sich stimmige Ausstellung sein wird, die für viele unterschiedliche Menschen bedeutend ist. Basis ist die Gegend um Limburg, und wir arbeiten vor allem auch im Dialog mit den Menschen dort – diese Ausstellung soll nicht zuletzt auch für sie funktionieren. Was ich wirklich gerne sehen würde ist: Eine wirklich gelungene Auseinandersetzung mit dem Ort und der Region Limburg und eine vielfältige künstlerische Produktion, die die Vielschichtigkeit des Themas widerspiegelt.

Die Manifesta findet alle zwei Jahre an Orten abseits des üblichen Kunstspektakels statt, unter anderem um neuen fruchtbaren Boden für die zeitgenössische Kunst ausfindig zu machen. Welches Potenzial birgt Limburg Ihrer Meinung nach?
Limburg war als eines der größten Kohle-Abbaugebiete Belgiens enorm wichtig für die Industrie. Die Bevölkerung entstand ursprünglich aus der europaweiten Rekrutierung von Arbeitern für den Kohle-Abbau. Die Minen sorgten für eine landschaftliche Umstrukturierung und eine Ausbildung der Infrastruktur. Diese Veränderungen sind noch heute sichtbar, vermischen sich jedoch mit Umstrukturierungen aus jüngerer Zeit, wie beispielsweise durch die Schließung der Minen in den 60er- und 80er-Jahre. Besonders interessant an Limburg ist, dass die Schließung der Minen nicht, wie zum Beispiel in England, zu einem sozialen Desaster geführt hat. Im Gegenteil, die Struktur der Gegend hat sich durch die wirtschaftliche Geschichte definiert und sich durch neue Wirtschaftszweige weiterentwickelt. Diese Dynamiken nehmen wir in unserer Ausstellung auf.

Welches kuratorische Konzept haben Sie?
Der Titel der diesjährigen Manifesta lautet „The Deep of the Modern“. Die Ausstellung wird aus drei Teilen bestehen, die alle auf unsere Überlegungen zu den sozialen Umstrukturierungen durch das beginnende Industriezeitalter beruhen - sowie auf der Erkenntnis, daß dieser Prozess noch längst nicht beendet ist. Ein Teil widmet sich Positionen der zeitgenössischen Kunst, die sich mit der weltweiten industriellen Produktion beschäftigen. In einem zweiten Teil werden kunsthistorische Bezüge zu diesen zeitgenössischen Werken hergestellt. Denn wir möchten untersuchen, inwiefern die Kohleindustrie Einfluss auf die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts genommen hat. Wir versuchen Momente aufzuzeigen, die beweisen, dass die künstlerische und die industrielle Produktion interagieren. Ein dritter Teil wird zeigen, wie sich aus dem kulturellen Erbe und dem Umgang mit Erinnerung völlig neue Formen von Kultur ausbilden, das reicht von Comic-Büchern bis zum Modedesign. Die Ausstellung spiegelt den Versuch wider, das Ausmaß der Industrialisierung nicht nur zu zeigen, sondern es zu beweisen. Insofern setzt sich das Projekt mit weitaus mehr auseinander als nur mit der Geschichte der Region und des Kohlenbergbaus.

Welche Aufgaben übernehmen Ihre assoziierten Kuratorinnen Katerina Gregos und Ades Dawn in der Konzeption und Umsetzung der Ausstellung?
Katerina Gregos hat mit mir gemeinsam den zeitgenössischen Teil der Ausstellung kuratiert. Für die Auswahl der Künstler haben wir mehrere hundert Künstlerateliers besucht. Die Entscheidungsfindung war ein sehr behutsamer Prozess, und wir wollten von jedem einzelnen Projekt und Künstler wirklich überzeugt sein. Dawn Ades hat ein wirklich fantastisches Verständnis für moderne Kunst und hat den kunsthistorischen Teil der Ausstellung betreut.

Sind die einzelnen Teile der Ausstellung auch als Umsetzung des von Ihnen stammenden Ausspruchs „Die Vergangenheit hat immer noch eine großartige Zukunft“ zu verstehen? Sie haben das auf einem der Coffee Break Meetings im Rahmen der Manifesta-Vorbereitungen gesagt ...
Das Coffee Break Meeting - eine schon seit langem praktizierte Idee der Manifesta Stiftung - bot uns die Möglichkeit, der Frage nachzugehen, worin die Verbindung und die Attraktion zeitgenössischer Kunst gegenüber der Geschichte liegen. Mein Ausspruch war dabei als Provokation gemeint, um zu einem Denken zu gelangen, dass über den eigentlichen Ausstellungsinhalt hinausgeht. Wir möchten mit der Ausstellung eine sehr komplexe Annäherung an den Umgang mit Geschichte entwickeln und dabei die Spannung beleuchten, die durch das gleichzeitige Verlangen wie Ablehnen von Vergangenem entsteht. Manifesta 9 soll erfahrbar machen, wie sehr wir in historischen Veränderungen eingebettet sind und inwiefern die daraus hervorgehenden sozialen Veränderungen in vielen Details weiterleben.

Sie sprechen in Ihren Texten häufig von Geschichte als kollektiver Erfahrung. Versuchen Sie in irgendeiner Weise die Bewohner Limburgs in das Projekt zu involvieren und somit eine kollektive Erfahrung für sie zu schaffen?
Eine so umfassend angelegte Ausstellung wie Manifesta sollte ihre inhaltlichen Ziele mit institutionellen und sozialen Ansprüchen verbinden können. Die Herausforderung liegt darin, sowohl auf kultureller als auch auf sozialer Ebene Einfluss auf die Umgebung zu nehmen – und dies möglichst zur gleichen Zeit und mit der gleichen Intensität. Dazu müssen wir eine Verbindung zu den Menschen vor Ort aufbauen und ihnen eine kulturelle Struktur anbieten. Mir ist es wichtig, das Interesse der Menschen zu erweitern und sie dadurch zu involvieren. Im besten Fall entsteht daraus eine kollektive Erfahrung. Das Besondere der Manifesta ist, dass dies alles in einem einzigen Moment passieren muss. Die Ausstellung kehrt nie an denselben Ort zurück. Anders als in Venedig, Istanbul oder São Paulo gibt es kein Publikum, das um sie herum wächst.

Welche Künstler werden auf der Manifesta zu sehen sein?

Die Namen der Künstler darf ich noch nicht verraten. Es war uns aber sehr wichtig, eine kleine Auswahl an Künstlern zu treffen. Ich vertrete die These, dass Biennalen heutzutage keine Megashows mehr sein müssen, weil es nicht mehr darum geht, junge Künstler vorzustellen und auf den Markt zu bringen. Unsere Motivation lag darin, durch weniger Künstler eine Ausstellung zu ermöglichen, die als Ganzes begreifbar ist, einer Logik folgt und sowohl physische als auch intellektuelle Wege anbietet, die sich auf vielfältige Weise verfolgen lassen.

Manifesta 9, Kohleminen Limburg,  2. Juni bis 30 September 2012