Das Montmartre Londons

Auf der Biennale von Venedig vor zwei Jahren war der neue Kunstort bereits vertreten: „Peckham Pavilion“ nannte sich die kleine Galerie, die sich zur Eröffnung direkt bei den Giardini zwischen die Restaurants geschummelt hatte. Teure Beleuchtung, Holzboden, ein paar Gemälde an den frisch gestrichenen Wänden, vor der Galerie entspannten sich junge Briten in Röhrenjeans. Peckham Pavilion, das klang flott und einprägsam, doch war hier ernsthaft Peckham gemeint? Jener Südlondoner Stadtteil, der normalerweise vor allem wegen Teenagermorden in den Schlagzeilen steht? „Wir arbeiten in diesem Viertel, und es unterscheidet sich gar nicht so sehr von Venedig – die Straßenatmosphäre aus Gemüseständen und Fischverkauf“, sagte einer.

Mit dem Unterschied, dass in Peckham niemand Bellinis trinkt. Noch nicht. Denn der Stadtteil, der mit seiner großen westafrikanischen Gemeinde eine der interessanten Mikroökonomien Londons darstellt, ist derzeit so etwas wie das schräge Maskottchen der Londoner Kunstwelt. Manche nennen es sogar schon das Montmartre von London. Und seit der Biennale hat sich das Netz diverser Künstlergruppen, kleiner Galerien und Off-Räume noch einmal so weit verdichtet, dass es nun einen Südlondon-Kunstführer gibt und Supersammler wie Saatchi ihre berüchtigten Atelierbesuche machen. Ranzige Pubs werden plötzlich Ausstellungsräume, und in einer ehemaligen Waffenfabrik befinden sich Ateliers. Auto Italia, eine Gruppe, die eine leer stehende italienische Schrauberwerkstatt besetzte, nahm mit ihrem Off-Space-Charme beim Programm der vergangenen Frieze Art Fair teil.

Noch erfolgreicher arbeitet die Galeristin Hannah Barry in der kulturellen Peripherie. Die 26-jährige Kunsthistorikerin stemmt nur einige Schritte entfernt von Peckhams Einkaufsstraße fast monatlich eine Ausstellung mit unbekannten Talenten und etablierten Namen wie Matthew Darbyshire. Ihre jährliche Skulpturenschau „Bold Tendencies“ auf dem Dach eines Parkhauses zog im vergangenen Jahr angeblich 45 000 Leute an, das Magazin „Modern Painters“ bejubelt sie, reichlich euphorisch, als größte Newcomerin der britischen Kunstszene.

Der Erfolg wird durch die „Exotik“ des Stadtteils, wo kongolesische Haarstudios neben Galerieräumen zu finden sind, natürlich begünstigt. Allerdings hatte der Londoner Süden schon vor dem aktuellen Hoch ein kulturelles Leben. Das Goldsmiths College, an dem Damien Hirst oder Angela Bulloch studierten, ist gleich um die Ecke, und das Wohnhaus von John Latham ein Wallfahrtsort für Fans des 2006 verstorbenen Konzeptkünstlers. „Sein Haus war immer eine meiner Stationen in London“, sagt Hans-Ulrich Obrist. „Einmal war Douglas Gordon auch dabei, und wir haben auf zerbrochenen Glasplatten gesessen und ewig geredet.“

Hinter dem rasanten Erfolg von Peckhams neuer Kunstboheme stecken nicht zuletzt perfekte Professionalisierung und Selbstvermarktung: Cambridge-Absolventin Hannah Barry kollaboriert mit kommerziellen Schwergewichten wie dem Galeristen Timothy Taylor und dem Händler Anthony d’Offay. Und auf der Website der Auto-Italia-Künstler ist zu lesen, woher das Kleingeld kommt: aus dem Sponsorprogramm der staatlichen Lotterie.