Zum Tod von David Graeber

Kunst rettet uns vor Bullshit-Jobs

David Graeber 2012
Foto: Marijan Murat/Klett Cotta/dpa

David Graeber 2012

Der Anthropologe David Graeber hat eine schockierende Entdeckung gemacht: Die meisten von uns haben "Bullshit-Jobs". In der Kunst sah er einen Ausweg. Jetzt ist der Publizist im Alter von 59 Jahren gestorben

Ende 2018 wurde das Buch eines Anthropologen durch die deutschen Feuilletons gereicht: "Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit" von David Graeber. Darin argumentiert der US-Amerikaner, der an der London School of Economics and Political Science lehrte und mit seinem Bestseller "Schulden: Die ersten 5000 Jahre" bekannt wurde, dass bis zu 40 Prozent der Arbeit, die heute in den westlichen Industriegesellschaften getan wird, Bullshit seien, also: überflüssig.

Hinter der Theorie der Bullshit-Jobs steckt eines der größten Rätsel der postindustriellen Gesellschaften. Schon in den 30er-Jahren hatten Ökonomen vorhergesagt, dass wegen des technologischen Fortschritts und der Automatisierung die Menschen in der Zukunft – also unserer Gegenwart – nicht länger als drei oder vier Stunden täglich würden arbeiten müssen. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Arbeiter wurden zwar entlassen, aber gleichzeitig die Verwaltungen, der Finanzsektor, das Marketing aufgebläht. So arbeiten die Menschen heute weiterhin 40 Stunden oder mehr in der Woche, nur eben in anderen Berufen: als Personalberater, Kommunikationskoordinatoren, PR-Wissenschaftler, Finanzstrategen, Anwälte für Gesellschaftsrecht, im mittleren Management, als Verwaltungsfachangestellte. Sie produzieren: nichts, was irgendjemand braucht.

Was würde passieren, wenn alle Leute mit Bullshit-Jobs von heute auf morgen aufhören würden zu arbeiten? Es würde, so Graeber, den Alltag ihrer Mitmenschen nicht im Geringsten beeinträchtigen – ganz anders als bei Müllmännern oder Krankenschwestern.

Bullshit-Jobs und "Scheißjobs"

Bullshit-Jobs gibt es unter anderem deshalb, weil der Kapitalismus längst nicht so effizient ist, wie er von sich selbst behauptet. Manager und CEOs lassen sich zwar feiern, wenn sie Personal in der Produktion reduzieren. Gleichzeitig aber verschaffen sie sich reihenweise Untergebene im mittleren Management, um ihre eigene Wichtigkeit zu steigern, so wie früher ein König einen Hofstaat hatte – Graeber nannte das Manager-Feudalismus.

Trotz ihrer offensichtlichen Überflüssigkeit werden Bullshit-Jobs viel besser bezahlt als die meisten Tätigkeiten, die für die Gesellschaft nützlich sind, wie das Erziehen von Kindern, die Krankenpflege oder das Schneiden von Haaren. Inhaber von Bullshit-Jobs haben es auf den ersten Blick viel besser als diejenigen, die eine Stelle in der sorgfältig davon abzugrenzenden Kategorie "Scheißjob" haben, anstrengend, schmutzig
und schlecht bezahlt. Und doch sind die Leute, die Bullshit-Jobs haben, nur selten glücklich damit. Der Mensch, so folgerte Graeber, braucht einfach das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.

Womit wir bei der Kunst angekommen wären – dem Betätigungsfeld, das von der Bullshit-Perspektive aus schwierig zu beschreiben scheint, ist es doch gleichzeitig absolut sinnlos und so sinnvoll wie nur irgendetwas. Für den Anthropologen Graeber war die Sinnhaftigkeit der Kunst gar keine Frage: Das Bedürfnis, sich künstlerisch auszudrücken, gehört in allen Gesellschaften zum Menschsein dazu. Zwar würde der Alltag der Menschen nicht gleich zusammenbrechen, wenn alle Künstler ihre Arbeit einstellen würden.

Grundeinkommen als Lösung

Aber Kreativität folgt einem tiefen Bedürfnis des Menschen und kann sowohl den Künstler glücklich machen als auch seine Mitmenschen, die sich von den Musikern, Malern, Comiczeichnern und Performern unterhalten, anregen, berühren oder aufwühlen lassen. Für Graeber war künstlerische Betätigung an sich also bereits ein Wert, egal wie sie aussieht und was sie erreicht – was für Menschen, die im Kunstbetrieb ihr Auskommen suchen, eine erfrischende Perspektive sein könnte, finden sie sich doch täglich im Zangengriff wieder zwischen den kunstinternen Qualitätsansprüchen und dem Unverständnis der durchökonomisierten Restwelt, die Kunst nicht selten als weniger nützlich einschätzt als beispielsweise das Bankenwesen.

David Graeber schrieb, dass unter den kreativen Berufen wie Journalist, Regisseur oder auch Künstler es einige wenige gibt, die interessant und erfüllend sind und trotzdem gut bezahlt. Allerdings werden sie zumindest in den USA fast ausschließlich von einer Kaste gut situierter bildungsbürgerlicher Leute ausgeführt, die ihren Kindern die nötige Geschmacksverfeinerung, aber auch das nötige Kleingeld für die vielen unbezahlten Praktika mitgeben können, die man braucht, um es in einem kreativen Beruf zu schaffen. Deswegen, so Graebers deprimierender Schluss, wird diese kreative Elite von allen gehasst: von denen mit den Scheißjobs und von denen mit den Bullshit-Jobs.

Um das Phänomen der Bullshit-Jobs zu bekämpfen, plädierte David Graeber für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Es könnte die Menschen davor bewahren, sinnlose Jobs anzunehmen.

Jetzt ist David Graeber im Alter von 59 Jahren in einem Krankenhaus gestorben, wie seine Frau auf Twitter mittteilte. Wie auch immer man seine Ideen politisch und ökonomisch bewerten mag: Vielen Künstlern würde so ein Grundeinkommen das Leben erleichtern. Sie könnten bauen, malen, erschaffen, was sie wollen – ganz ohne Grund, einfach weil sie es können. Und uns allen damit das Leben lebenswerter machen.