Hochhäuser säumen die Avenida Paulista, Prachtstraße der brasilianischen Finanz- und Kulturmetropole São Paulo. Auch einige herrschaftliche Villen, in denen einst Kaffeebarone wohnten, sind noch übrig. Dazwischen hängt wie an zwei riesigen roten Bügeln eine Beton- und Glasbox über einem Freiraum. Es ist das ikonische Museu de Arte de São Paulo (MASP), das "MoMA São Paulos", das die italienisch-brasilianische Architektin Lina Bo Bardi (1914-1992) einst entworfen hat - und dessen künstlerischer Leiter der Kurator Adriano Pedrosa ist.
Nun hat das spektakuläre modernistische Gebäude, ein Postkartenmotiv São Paulos wie der Zuckerhut oder die Christusstatue von Rio de Janeiro, Zuwachs bekommen: nämlich einen 70 Meter aufragenden Monolithen in Grafit, der in etwa so hoch ist wie das berühmte MASP lang. Durch den Anbau, der jüngst eröffnet wurde und nach Lina Bo Bardis Mann und dem ersten Direktor des Museums Pietro Maria Bardi (1900-1999) benannt ist, vergrößert die Ausstellungsfläche eines der wichtigsten Kunsthäuser Lateinamerikas um 66 Prozent.
Doch auch dessen Blick erweitert sich - auch dank Adriano Pedrosa. Zu den fünf Ausstellungen zum Auftakt gehören außer "Renoir" auch "Histórias do MASP", "Isaac Julien: Lina Bo Bardi", "Geometrias" - und "Artes da África". Nach der 60. Ausgabe der Kunstbiennale in Venedig, die mit dem Brasilianer Pedrosa den ersten Kurator erlebte, der aus dem "Globalen Süden" stammt und immer noch dort lebt, möchte auch das MASP seine Vielseitigkeit zeigen. Obwohl, oder gerade weil es nach eigenen Angaben über die größte Sammlung europäischer Kunst in der südlichen Hemisphäre verfügt.
Brasilianische Künstler sind sichtbar wie nie
So hat Pedrosas Kuratorentätigkeit bei der internationalen Kunstausstellung unter anderem dazu geführt, dass Kunst aus Brasilien weltweit so viel Aufmerksamkeit erregt wie lange nicht mehr. Künstlerinnen und Künstler aus dem größten und bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas bekommen mehr und mehr Raum in renommierten Museen und auf Kunstmessen rund um den Globus. Beatriz Milhazes etwa stellt im Guggenheim in New York aus, Ernesto Neto wird seine monumentalen Skulpturen im Juni ins Grand Palais in Paris bringen. In Deutschland ist derzeit etwa Lenora Barros im Badischen Kunstverein in Karlsruhe (bis 11. Mai) zu sehen, und die Neue Nationalgalerie zeigt im Mai eine Retrospektive der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark.
Der Pedrosa-Effekt wirkt sich aber auch auf den Kunstbetrieb in Brasilien selbst aus. Zu spüren war das kürzlich etwa bei der Messe SP-Arte, auf der die kühnen, farbenfrohen Kompositionen von Milhazes quasi allgegenwärtig waren. "In diesem Jahr hat die Zahl der Eingeladenen das Niveau von vor der Pandemie erreicht", sagte Fernanda Feitosa, Exekutiv-Direktorin einer der bedeutendsten Kunstmessen Lateinamerikas, die regelmäßig internationale Gäste aus der Branche nach São Paulo einlädt, im Gespräch mit Monopol. "Wir haben mehr als 80 Sammlerinnen und Kuratoren, Direktorinnen und Gönner von Museen aus Lateinamerika, Asien, Australien, den USA und Europa empfangen."
Unter den Gästen aus Deutschland in São Paulo (das mehr und mehr zum "New York der Südhalbkugel" wird), waren zum Beispiel der Berliner Galerist Alfred Kornfeld sowie die Sammler Stefan Vilsmeier und Sergio Gonçalves Linhares aus München als Teil einer Gruppe mit der ebenfalls in Berlin ansässigen brasilianischen Kuratorin Tereza Arruda.
"Wir können so viel von Brasilien lernen"
Kornfeld dreht an diesem Tag schon seine zweite Runde durch den von Meister-Architekt Oscar Niemeyer entworfenen Pavillon. "Die brasilianischen Künstler sind auch beispielsweise bei der Art Basel vertreten, aber hier findet man sie konzentriert", sagt er begeistert. "Wir wissen fast nichts über brasilianische Kunst, kennen nur europäische und US-amerikanische Kunst. Aber wir können so viel von Brasilien lernen, denn es hat eine reiche Kultur, die wir hochnäsig behandelt haben. Jetzt ist es an der Zeit, diese Künstlerinnen und Künstler wahrzunehmen."
Am Stand der Verve Galeria zeigt Kornfeld ein Bild von Mayara Ferrâo, das er gekauft hat. Die aus Salvador stammende Künstlerin nutzt Künstliche Intelligenz, um auf alten Schwarz-Weiß-Fotos eine zweite afrobrasilianische Frau hinzuzufügen. "Sie hat etwas geschaffen, das Interesse weckt, füllt den fehlenden Teil", sagt Kornfeld über die Darstellung einer einst unmöglichen Liebe. "Mir gefällt, dass sie mit KI arbeitet - und damit Geschichte in das Heute bringt."
Heute vertritt inzwischen fast jede brasilianische Galerie auf einer internationalen Kunstmesse eine afrobrasilianische oder indigene Künstlerin oder einen Künstler. Claraboia etwa zeigte in São Paulo die Keramiken der paraguayischen Künstlerin Julia Isidrez, deren Werke auf Techniken ihrer Guarani-Vorfahren beruhen und die auch in Venedig zu sehen war.
Erinnerungen an die Geschichte der Sklaverei
Adriano Pedrosa, der selbst den Instagram-Account des MASP betreute, hatte in Brasilien bereits Aufmerksamkeit erregt, lange bevor er zur Venedig-Biennale berufen wurde. Seit der offen queer lebende Kurator 2014 die künstlerische Leitung des Museums übernommen hatte, arbeitete er auf eine Öffnung hin: zu afrobrasilianischer und indigener Kunst, Werken von Frauen und aus der LGBTQI+-Gemeinschaft.
Er gestaltete dazu Sammlung, Narrative und Programm des Hauses um. "Histórias Afro-Atlânticas" beleuchtete etwa die Folgen und das Erbe des Sklavenhandels zwischen Afrika, den Amerikas und Europa - und wurde von der "New York Times" zu einer der besten Ausstellungen 2018 gewählt.
Nach Brasilien wurden mehr Menschen aus Afrika verschleppt als in die USA, nach aktuellen Forschungen über 5,5 Millionen. Museen wie das Museu de Belas Artes in Rio de Janeiro, wo im Hafen einst mehr als zwei Millionen Afrikanerinnen ankamen, zogen mit Ausstellungen wie "Pretagonismos", eine Wortschöpfung aus "Protagonismus" und "Pretos" (Schwarze), nach. Es wäre noch viel mehr notwendig, um die Erinnerung an die Sklaverei wachzuhalten und ihre Folgen aufzuarbeiten.
"Die Leute öffnen ihre Augen"
"Die Geschichte der Kunst ist, wie die gesamte Geschichte, sehr imperialistisch und kolonial, und was Pedrosa versucht, ist, diese stillen klassifizierenden Logiken zu dekonstruieren, die weiterhin vorherrschen", sagt die Historikerin, Anthropologin und MASP-Kuratorin Lilia Schwarcz. Sie nennt die Arbeit ihres Kollegen "revolutionär".
Sergio Linhares, der mit seinem Partner, dem Med-Tech-Unternehmer Stefan Vilsmeier, vor allem zeitgenössische Werke aus Afrika und der afrikanischen Diaspora sammelt, findet: "Seit der Venedig-Biennale ist nicht nur das Interesse an Brasilien, sondern auch für den Globalen Süden gestiegen." Durch Adriano Pedrosa sei mehr Raum für aufstrebende, auch autodidaktische Künstlerinnen und Künstler entstanden. "Die Werke in Brasilien, in Afrika, in Asien haben eine hohe Qualität, und nun hängen sie in Museen, sind in sozialen Medien zu sehen - und die Leute öffnen ihre Augen."