Internetdienst Artsy

Der Kunst-O-Mat empfiehlt

Das Internet-Start-up Artsy beherrscht die Kunst der Verknüpfung. Das hat es schon vor dem eigentlichen Launch ihres Dienstes im kommenden März bewiesen, indem es sich ein Allstar-Team aus Investoren und Berater an die Seite geholt hat: Galerist Larry Gagosian, Google-Chef Eric Schmidt, die russische Kunstsammlerin Dasha Zhukova und Wendi Murdoch, die Frau vom Medienunternehmer Rupert Murdoch, beteiligen sich an der neuen Onlineplattform. Artsy soll Sammlern helfen, nach Ausstellungen und Verkäufern von Kunstwerken zu suchen. Vor allem aber wird das Portal dem Anwender Kunst vorschlagen, die ihm gefallen könnte.

„Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch ...“, diesen Satz kennen wir aus dem Internet. Doch Artsy geht weiter: Die Website, die von dem 24-jährigen Entwickler Carter Cleveland und von Sebastian Cwilich, einem ehemaligen Mitarbeiter des Auktionshauses Christie’s, geleitet wird, basiert auf dem Art Genome Project, einer Datenbank, mit der die Suche nach potenziellen Objekten der Begierde um einiges verfeinert wird.

Vorbild ist das Music Genome Project, bei dem Musiktitel  bis zu 400 Eigenschaften – etwa Tonumfang, Klangfarbe, Stimmlage, musikalische Verzierungen – zugeordnet werden, sodass sich auf dieser Grundlage Verknüpfungen herstellen lassen. Das Music Genome Project findet Anwendung beim überaus erfolgreichen Internetradio Pandora, das anhand eines vom Hörer eingegebenen Songs eine Playlist erstellt, die den Vorlieben des Users entsprechen.

Algorithmus statt Geschmacksurteil
Artsy soll also Kunstwerke empfehlen können, die persönliche Präferenzen berücksichtigen: großformatig oder klein, Leinwand oder Foto, expressiv, sinnlich, konzeptuell. Ob das funktionieren kann? Vielleicht. Es könnte – wie bei einem Wahl-O-Mat – zu Überraschungen führen: Wer saubere Minimal Art mag, sollte doch auch mal die Sauereien der Wiener Aktionisten versuchen, denn beide waren ihrer Zeit gleichermaßen ein Ärgernis. Die zentrale Kategorie wäre also „provokant“.

Es wird darauf ankommen, wie treffsicher und originell die Macher von Artsy beim Zuweisen und Gewichten der Attribute sind. Vielleicht wird am Ende jedoch kaum jemand das Portal nutzen wollen, denn die Datenbank – in dieser Eigenschaft selbst ein Kunstwerk – wirft Fragen auf, die am Selbstverständnis rütteln mag: Kann ein Algorithmus das Geschmacksurteil, diese Perle des bürgerlichen Bewusstseins, ersetzen?

Artsy zeigt die Widersprüche des Kunstbetriebs
Dabei sollten wir uns auf dieses Experiment herzlich freuen. Denn vielleicht lassen sich mit solchen Programmen und Datenbanken spielerisch einige Widersprüche des Kunstbetriebs sichtbar machen. Vor allem dies: das Pochen auf Individualität und persönlichem Urteil bei gleichzeitiger Sorge um Orientierung.

Denn sosehr Originalität in der zeitgenössischen Kunst als Qualitätsmerkmal gilt – sie wird ja bereits unablässig sortiert.

Museumsdirektoren weben seit der Moderne kontinuierlich Neuerwerbungen in den Bestand ein und gruppieren auch in temporären Ausstellungen nach Themen, Stilen, Form und Farbe. Auf dem Kunstmarkt funktioniert der Galerist als Vertrauensgenerator: Jeder neue Künstler in seinem Programm wird legitimiert durch die bereits Erfolgreichen, die er vertritt. Und der Kulturjournalist schafft dann auch noch einmal publizistisch Ordnung. Der Galerist, der Kurator, der Kritiker – sie bestimmen Geschmack und geben Urteile weiter an das bürgerliche Publikum.

Sehnsucht nach Überblick
Mit zunehmender Fülle an Kunst entwickelt sich heute sogar die Sehnsucht nach Überblick durch Statistik. Künstlerrankings suggerieren Objektivität. Der Heidelberger Kunstverein hat kürzlich als spöttische Reaktion auf statistische Verfahren eine vermeintlich „perfekte“ Gruppenschau errechnet – basierend auf dem durchschnittlichen Mittelwert einer Summe von Ausstellungen.

Mit dem Geschmacksautomat Artsy ist nun jedem von uns ein Spielzeug in die Hand gegeben, das uns zeigt, wie im Kunstbetrieb Hoffnung verteilt wird. Wie sich Vertrauen akkumuliert um Schulen, Werkstätten, Dynastien, Cliquen, Geld, Machtzentren, Sex, Status und Intellektualität, wie ein Kanon entsteht, welche Bezugssysteme Kunst braucht – das Geheimnis liegt in den Verknüpfungen. Und im Geschmacksurteil einiger weniger.

Das Schönste an Artsy wird sein, dass hier ein Künstlermodell fehlen muss, von dem Baudelaire schwärmte: „Der Künstler hängt von sich selbst ab. Er verspricht den kommenden Jahrhunderten nur seine eigenen Werke. Er bürgt nur für sich selbst. Er stirbt ohne Nachkommen. Er war sein König, sein Priester und sein Gott.“ So ein Solitär wird bei Art.sy einfach nicht gefunden. Auf immer verkannt.