Der tote Embryo im Taxi

 

Der Termin im Krankenhaus war schon ein Horrortrip gewesen. Es folgten Krämpfe, Übelkeit, Erschöpfung – es wurde immer schlimmer. Endlich saß sie im Taxi, sie wollte wieder zum Arzt. Da glitt plötzlich ein blutiger, glitschiger Klumpen ihre Schenkel herunter: ein Embryo. Er hatte sich festgekrallt in ihr und jetzt erst ihren Leib verlassen, nach Tagen.
Mit der Geschichte dieser Abtreibung hat die Britin Tracey Emin ihre Karriere als Künstlerin begründet. Sie hatte den aufstrebenden Junggaleristen Jay Jopling, der später in seiner kleinen White Cube Gallery die Young British Artists berühmt machen sollte, beim gemeinsamen Bier überzeugt, ihr zehn Pfund zu geben – im Austausch dafür würde sie ihm eine Serie von Briefen schreiben. Einer der Briefe handelte von dem Embryo im Taxi, und der Galerist nahm Emin sofort unter Vertrag. Er dürfte es nicht bereut haben, denn Tracey Emin wurde mit ihrer radikalen Bekenntniskunst zu einer der erfolgreichsten Künstlerinnen der 90er-Jahre. Ihr ungemachtes Bett, mit dem sie 1999 dann doch nicht den Turner Prize gewann, wurde fast so berühmt wie der eingelegte Hai des Damien Hirst.

 

Natürlich durfte der tote Embryo im Taxi auch in der Autobiografie nicht fehlen, die Emin 2005 unter dem Titel „Strangeland“ veröffentlicht hat. Jetzt hat der kleine Münchner Blumenbar Verlag das Buch für Deutschland verfügbar gemacht, und man kann sich auch hier den verstörenden Berichten der 1963 geborenen Britin widmen. Immerhin, die erste Abtreibung, die erwähnt wird, findet dann doch nicht statt: die nämlich, mit der Tracey Emins Mutter sich des Resultats ihrer Affäre mit einem leider anderweitig verheirateten türkischstämmigen Hotelbesitzer entledigen wollte. Die Mutter brachte es nicht übers Herz, Tracey und ihr Zwillingsbruder Paul wurden geboren, und der Hotelbesitzer wurde ihr meist abwesender Vater.
 

„Als ich geboren wurde, dachten sie, ich sei tot“, so lässt Tracey Emin ihr Leben beginnen – der verzögerte erste Schrei des Babys ist für sie das frühe Zeichen einer Morbidität, die sie nicht mehr verlassen soll. Die Erzählungen aus ihrer Jugend im gottverlassenen Küstenstädtchen Margate kennt man in Bruchstücken aus ihren Werken: Verschwommen wird von sexuellem Missbrauch durch einen Freund der Familie berichtet, Tracey verweigert die Nahrung, bis ihr die Zähne wegbröckeln, macht auf Klassenfahrt jede Nacht ein und schämt sich zu Tode. Mit zwölf wird sie von einem älteren Jungen aus dem Ort vergewaltigt, sie schmeißt die Schule und macht aus Sex einen Sport: „Ich dachte mit meinem Körper.“ Die Geschichte von dem Tanzwettbewerb, den sie am Ende nicht gewinnt, weil all ihre ehemaligen Sexualpartner im Saal sind und die 15-Jährige als Schlampe von der Bühne buhen, war mal Teil eines eindrücklichen Videos. „Motherland“ heißt dieser erste, berührendste Teil der Aufzeichnungen; er endet mit einer komplett desolaten Szene in London, in der Tracey und ihre Mutter wie hoffnungslose Junkies für ein paar Pfund die letzte Goldkette versetzen.
 

Eine ganz andere, fremde Welt kommt im zweiten Teil „Fatherland“ hinzu: Hier erzählt Emin von den Reisen in den türkischen Teil Zyperns, aus dem ihr Vater stammt. Der habe seine uneheliche Tochter immer sehr respektiert: „Sie trinkt Whisky und raucht Zigaretten, aber sie ist keine Hure“, erklärt er den Männern in der zypriotischen Bar, die der jungen Frau Emin aufdringlich ins üppige Dekolleté glotzen. Doch auch das Mittelmeer heilt Tracey nicht von ihrer selbst diagnostizierten Haltlosigkeit: Sie kämpft mit ihren Depressionen, verliert sich in wilden Affären mit 20 Jahre älteren Fischern – um im dritten, „Traceyland“ überschriebenen Teil, schließlich eher überrascht als zufrieden festzustellen: „Ich bin nicht gestorben. Das Leben wurde sogar besser.“
 

Hier wäre man jetzt neugierig darauf, etwas genauer zu erfahren, wie Traceys Aufstieg vom derangierten Mädchen aus Margate zur berühmten „Frau mit dem Bett“ funktionierte. Aber Emins assoziative Anekdotensammlung bleibt lückenhaft: Freud und Leid eines exzessiven Alkoholkonsums, Sex, Masturbation und immer wieder das Trauma der Abtreibungen werden intensiv diskutiert, von der Turner- Prize-Episode dagegen erfährt man nur, wie sie völlig betrunken im Fernsehen auftauchte und sich danach von allen Freunden verspotten lassen musste.
 

Andererseits hat man mit dieser heterogenen Sammlung von bereits veröffentlichten Texten, Gedichten, Träumen und Bewusstseinsfetzen vielleicht genau das in der Hand, was Tracey Emins Kunst ausmacht. Ihre Strategie ist ja, möglichst drastische autobiografische Anekdoten aus ihrem Leben zu destillieren und sie sich in der künstlerischen Bearbeitung buchstäblich vom Leibe zu halten – und sie ist damit auf eine Weise radikal, die auch in der an Exhibitionisten nicht armen Kunstgeschichte einigermaßen einzigartig ist.
Die wirkliche Tracey Emin, so hat sie mal in einem Interview gesagt, kenne man deswegen noch lange nicht. Selbst wenn jede einzelne Anekdote aus „Strangeland“ auf dem realen Leben der Tracey Emin beruht, müssen wir die Textsammlung als Selbstentwurf einer Künstlerin lesen, deren Existenz nicht aufgeht in ihrem Werk – zumindest wünscht man ihr das nach der Lektüre von Herzen.
 

Tracey Emin: „Strangeland“. Blumenbar Verlag, 240 Seiten, 19,90 Euro