Pionierin der Arte Povera

Die Künstlerin Marisa Merz ist tot

Sie erlaubte der Arte Povera etwas Weiches und Poetisches und kämpfte sich in der Männerwelt der italienischen Kunst in die Sichtbarkeit. Jetzt ist Marisa Merz mit 93 Jahren in Turin gestorben

Über Marisa Merz wurde oft wie über eine seltene Spezies gesprochen, immer wieder fallen die Wörter "erste" und "einzige" im Zusammenhang mit ihrem Namen. Die gebürtige Turinerin, die nun mit 93 Jahren gestorben ist, behauptete sich in der männerdominierten "Arte Povera" Bewegung in Italien und experimentierte seit den 60er-Jahren mit minimalistischen Skulpturen und Installationen, die sich zwischen Figuration und Abstraktion bewegen.

1968 nahm sie gemeinsam mit ihrem Künstlerkollegen und Ehemann Mario Merz (1925 - 2003) an der Ausstellung "Arte Povera + Azioni Povere" in Amalfi teil, durch die der Begriff der "armen Kunst" als Stilbeschreibung geprägt wurde. Marisa Merz vereinte einfache Materialien und eher häuslich geprägte Handwerkstechniken und führte zusammen, was auf den ersten Blick nicht wirklich zusammen passt: Sie strickte mit Kupferdraht und baute Zimmerbrunnen aus Metall. Ihre Bilder malte sie unter anderem mit Lippenstift, in ihrer Küche experimentierte sie mit Alufolie, die sie zu luftballonartigen "Living Sculptures" formte, die in den Räumen schweben und wie empfindliche glänzende Organismen auf jeden kleinsten Luftzug reagieren.

Erste große Einzelschau erst 2017

Obwohl sie sich immer wieder neue Disziplinen und Formen erschloss und ihr Repertoire von raumgreifenden Installationen bis zu Miniturplastiken reichte, ließ die Anerkennung ihrer Arbeit lange auf sich warten. Man kennt die Geschichte. In den Künstlergruppen leuchten die Männer, einige von Marisa Merz' Werke wurden ihrem Mann zugeschrieben.

Es dauerte bis 1982, bis die Künstlerin zur Documenta in Kassel eingeladen wurde, zehn Jahre später nahm sie erneut an der Weltkunstschau teil. Als sie 2013 in Venedig mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, waren ihre Arbeiten endlich als wegweisend anerkannt. Marisa Merz versöhnte die einfachen Materialien der Arte Povera mit Ideen zum weiblichen Körper und erlaubte den klaren alltäglichen Formen ein wenig Zartheit und Opulenz.

Bis zur ersten großen Einzelausstellung dauerte es trotzdem noch vier Jahre. 2017 widmete ihr das Met Breuer in New York die Retrospektive "The Sky is a Great Space". In seiner Kritik im "New Yorker" nannte Peter Schjeldahl Marisa Merz die beste der Arte-Povera-Künstler, die den oft intellektuell überfrachteten Werken ihrer männlichen Kollegen den Mut zur Leichtigkeit und den Zauber des Alltäglichen entgegen setzte. 

"Ein Engel auf Erden"

2005 gründete ihre Tochter Beatrice in Turin die Fondazione Merz, die sich um das Werk und nun um den Nachlass der Künstlerin kümmert. In der Stadt, wo sie bis zuletzt lebte und arbeitete, wird Marisa Merz am heutigen Dienstag auch beerdigt. Die Kuratorin Carolyn Christov Bakargiev, Leiterin des Museums Castello di Rivoli in Turin, nannte sie auf Twitter einen "Engel auf Erden". Ihre Kunst habe "die Ästhetik des täglichen Wunders" geprägt, die der Arte Povera zugrunde liege. "Die Sterne haben geleuchtet, als sie durch sie hindurch gekommen ist", schreibt Carolyn Christov Bakargiev. "Auf dem Weg zu Mario."