„Finding Vivian Maier“ auf der Berlinale

Die Nanny und ihr heimliches Auge

„Talent zählt nicht viel da draußen“, sagt ein Lehrer zum 16-jährigen Mason, der gerade in der Dunkelkammer Bilder entwickelt. „Wenn du keinen Einsatz bringst, ziehen die Untalentierten an dir vorbei“. Richard Linklaters „Boyhood“ läuft im Berlinale-Wettbewerb und bricht Rekorde: In zwölf Jahren Dreharbeiten alterten die Figuren mit ihren Darstellern, zum Beispiel Ellar Coltrane als Mason, der später Fotograf werden will. „Boyhood“ ist nicht nur ein fesselnder Film, er zeigt deutlich, dass Spielfilme stets auch Dokumentationen sind. Selbst wenn Regisseure es wollen: die Wirklichkeit lässt sich nicht restlos aussperren, wegspielen, wegschminken.

Andererseits haben es Dokumentarfilmer mehr oder weniger mit Konstruktionen von Wirklichkeit zu tun, sie rennen dem Realen hinterher, bekommen Fetzen davon zu fassen, nähen ihren Stoff am Schneidetisch zusammen. Das Ergebnis ist ein Patchwork, ein Konstrukt.

Ergibt die Trennung zwischen Spielfilmen und Dokus denn überhaupt einen Sinn? Kategorien schaffen wohl Übersichtlichkeit, was auf einem Filmfestival ganz praktisch ist. In diesem Jahr finden sich in der Sektion Panorama Dokumente sehr interessante Filme, zum Beispiel „The Dog“ über den Bankräuber John Wojtowicz. Dass seine Geschichte mit Al Pacino verfilmt wurde („Dog Day Afternoon“), belegt wie das Linklater-Beispiel, wie fließend die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit in Filmen doch ist.

Die Geschichte, die John Maloof in seiner Doku „Finding Vivian Maier“ erzählt, klingt so absurd, dass man auf eine Hollywood-Adaption sicher noch lange warten muss. John Maloof ist Entdecker und Verwalter der Street Photography von Vivian Maier (1926-2009). Ihre Fotos, zum überwiegenden Teil aus posthum entwickelten Negativen vergrößert, entdeckte Maloof zufällig, nachdem er Werke der Freizeitfotografin 2007 bei einer Zwangsversteigerung in Chicago erworben hatte. Maier war in Frankreich aufgewachsen und arbeitete nach ihrer Rückkehr in die USA 40 Jahre lang als Kindermädchen. Ihrem Umfeld blieb weitgehend verborgen, dass diese alleinstehende, oft verschlossene, seltsame, später auch als verrückt taxierte Frau eine besessene Sammlerin von Alltagsdokumenten war – und eine hochbegabte Fotografin. Die Bilder bekam aber niemand zu sehen, als habe Maier ihre Blicke höher geschätzt als fixierte Bilder. Genau wissen kann man das nicht, denn selbst Maloof lernte Maier nicht persönlich kennen, die in ihren zwei letzten Lebensjahren nach Entdeckung des Konvoluts schwer krank war.

Kein Zweifel: Maier besaß den siebten Sinn für ausdruckshafte Kristallisationsmomente, war eine hervorragende Bildgestalterin und schoss mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex-Kamera mehr gute Bilder pro Rollfilm als viele ihrer berühmten Kollegen. 2011 brachte Maloof ein Buch mit Maier-Fotos heraus (deutsche Ausgabe bei Schirmer/Mosel, hier unsere Besprechung). Und auch die Einblendungen im Film belegen, dass dieses Werk sich mit den Arbeiten der ganz Großen messen lassen kann, mit Diane Arbus, Robert Frank, Helen Levitt.

„Finding Vivian Maier“ ist ein konventionell gemachter Dokumentarfilm, nicht mehr, nicht weniger, ordentlich geschnitten, mit vielen Einblendungen und passender Musikuntermalung versehen. Als Spurensuche und Versuch über Maier zählt er zu den spannendsten Künstler-Porträts seit langem. Neben Fotografen oder Galeristen wie Howard Greenberg kommen Eltern und ehemalige Kinder zu Wort, die mit Maier als Nanny zu tun hatten. Einige zeigen sich verblüfft über ihr „Doppelleben“, andere berichten von der Exzentrik und gar von dunklen Seiten ihrer Kinderfrau. Maier nahm Kinder mit auf Fotostreifzüge in gefährliche Gegenden von Chicago, von Gewalt gegen die Schutzbefohlenen wird berichtet, eine Fotoserie belegt, dass Maier nach dem Unfall eines Jungen lieber das bewusstlos auf der Straße liegende Kind fotografierte als sich an den Notfallmaßnahmen zu beteiligen.

Als hätte es viele Vivians gegeben, wird sie von anderen Familien aber auch als liebevoll und verhaltensunauffällig beschrieben. So vielschichtig wie ihr erst vor kurzem entdecktes, sensationelles Werk ist auch die Figur, die Künstlerin, die offenbar gar keine sein wollte. Bei der Aufführung seines Films auf der Berlinale sagte John Maloof, in den vergangenen Jahren habe Vivian Maier seine Arbeit vollkommen beherrscht. Seine eigenen Fotoarbeiten habe er angesichts ihrer ausdrucksvollen Bilder aufgegeben. Wie gut, dass der Zufall Maloof das Oeuvre dieser besessenen Bildermacherin in die Hände gespielt hat. Jetzt kennt die Welt Vivian Maier und wird sie nicht vergessen.

„Finding Vivian Maier“ ist auf der Berlinale noch einmal am 14. Februar um 22 Uhr im Delphi Filmpalast zu sehen