Peter Weibels ZKM-Highlights

Director's Cut

Anfang März ist Peter Weibel gestorben, einen Monat vor dem Ende seiner Amtszeit als Direktor des Karlsruher ZKM. Kurz vor seinem Tod stellte er für Monopol Highlights aus der Sammlung des Hauses zusammen

Die von mir aufgebaute ZKM-Sammlung stellt ein neues Sammlungsmodell dar. Statt der üblichen kunsthistorischen Genealogie, die sich aus der Geschichte der Malerei herausgebildet hat und auf der Idee einer Abfolge von Stilen basiert – auf Impressionismus folgen Pointillismus, Kubismus, Expressionismus, Surrealismus etc. –, verfolgt mein Modell eine Geschichte der Medienmigration: Wie macht ein Maler ein Porträt, wie macht ein Fotograf ein Porträt, wie macht ein Videokünstler ein Porträt, wie macht ein Computerkünstler ein Porträt? Dasselbe gilt für die Landschaft oder andere Sujets.

Für mich folgt die moderne Kunst nicht dem aristokratischen Modell der Blut-Genealogie, also einer genealogischen Abfolge, sondern im Gegenteil aus demokratischen Brüchen, und diese Brüche werden durch die Medien verursacht. Die Ideen wandern von einem Gastmedium zum nächsten, und die veränderten technischen Bedingungen verändern die Bildvorstellungen und -optionen sowohl für den Künstler wie für den Betrachter.

In der Geschichte der klassischen Malerei finden sich fast nur Ganz- oder Halbkörperbilder – jedoch fast nie Details wie ein gemaltes Ohr. Dann kommt die Fotografie mit der Möglichkeit der Großaufnahme, das heißt: Mit der Kamera kann man Bilder von Dingen machen, die das Auge des Malers nicht erfasst. Die Maschine führt zu einem Bruch, einer Erweiterung der Wahrnehmung, die sich ja zum Beispiel sehr deutlich bei den Fotografen des "Neuen Sehens" zeigt: Mit der Kamera kann man auf Fabriktürme oder Hochhäuser hinaufklettern, was ganz neue vertikale Perspektiven erlaubt, mit der Staffelei geht das nicht.

Oder denken Sie an Rosalind Krauss’ bahnbrechendes Buch "The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths" (1985), auf dessen Cover ein Close-up eines Zehs abgebildet ist! Die Maler hätten auch einen Zeh malen können, taten sie aber nicht, weil sie die Großaufnahmen nicht kannten. Thomas Ruffs "Portrait Anna Giese" (1989) bleibt insofern hinter den technischen Möglichkeiten der Fotografie zurück. Er ist, gewollt oder nicht, noch immer ein Gefangener der Malerei, denn genauso wie er fotografiert, haben auch die Maler gemalt.

Mit Video kommen dann neue technische Möglichkeiten auf, die wiederum neue Vorstellungen des Porträts erlauben: die Möglichkeit zur Fragmentierung und Vervielfältigung. In Gary Hills "Suspension of Disbelief" sieht man auf 30 Bildschirmen Großaufnahmen wechselnder Körperteile. Es ist eine Mischung aus Mann und Frau, jung und alt, und es wird ständig umgeschaltet. Manchmal entsteht durch den schnellen Wechsel der Bilder die Illusion, dass größere Bereiche des Körpers über mehrere Bildschirme verteilt sind.

Gelegentlich sind beide Körper zu sehen, wie sie aufeinander zudriften, sich überlappen und dann auseinanderbrechen. Der Körper ist in Hills Video fragmentiert auf eine Art und Weise, wie dies die Fotografie und Malerei nicht können, und stellt daher die geschlechtliche Identität infrage.

In Closed-Circuit-Videoinstallationen können sich die Betrachter erstmals selbst live auf einem Monitor sehen, wie zum Beispiel in Ira Schneiders "Echo" (1975). Sie können ihre Bewegungen in Echtzeit auf dem Bildschirm betrachten, die digital gespeichert werden. Dadurch überlagern und multiplizieren sich mehrere, jeweils um einige Sekunden verzögerte Bilder des Betrachters. Mit Richard David Precht stellt sich daher der Betrachter die Frage: Wer bin ich und wie viele? Der Bildschirm ist nicht nur ein Spiegel, sondern auch ein Archiv der jüngsten Vergangenheit – ein visuelles "Echo".

Ira Schneider "Echo"
Foto: : Thomas Goldschmidt, © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien

Ira Schneider "Echo", 1975/2018, Installationsansicht "Radical Software. The Raindance Foundation, Media Ecology and Video Art", ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, 2017–2018

Ist der abgebildete Mensch natürlich geboren oder computergeneriert? Das ist die Frage, vor die uns Daniel Heiss mit "Flick KA AI" stellt. KA steht für Karlsruhe, AI für Artificial Intelligence. Auf vier Flachbildschirmen erscheinen zufällig ausgewählte Porträtfotos in einem schier endlosen Zyklus. Für die Erzeugung der Bilder verwendete der Künstler ein maschinelles Lernverfahren, das er auf eine Sammlung von 60.000 Selbstporträts anwandte. Diese Sammlung enthält Bilder aller ZKM-Besucher, die sich seit 2007 in der Fotostation "FLICK_KA" fotografiert haben, die von Matthias Gommel und mir entwickelt wurde. Auf dieser Datenbank wurde ein künstliches neuronales Netz trainiert, das es ermöglicht, aus den kombinierten Merkmalen aller realen Personen neue künstliche Gesichter zu erzeugen. Die Digitalisierung erlaubt Möglichkeiten der Manipulation, wie sie weder die Fotografie noch das Video boten: Fake News in scheinbar objektiver Fotoautomaten-Ästhetik!

Daniel Heiss "Flick KA AI. Ein Turing-Test", 2019
Foto: Jonas Zilius, © Daniel Heiss, © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien

Daniel Heiss "Flick KA AI. Ein Turing-Test", 2019

Alle Genres der Kunst verändern sich bei ihrer Migration durch die Medien. Es entstehen auch neue Genres wie interaktive Installationen, bei denen der Betrachter das Bild physisch ändern kann, und umgekehrt Eingriffe des Betrachters in das Bild, in die Repräsentation, die die Wirklichkeit verändern. Die Brüche mit den historischen Bildvorstellungen durch die technischen Medien zeigen die Moderne als "anti-genealogisches Experiment", wie Peter Sloterdijk in seinem Buch "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" (2014) demonstriert.