Kunst-Pilgerreise ins Engadin

Das Paradies ist immer heute

In dieser Alpenhütte Hütte hat der Künstler Pawel Althamer seine "Franciszek"-Installation eingerichtet
Foto: Marco De Scalzi, Courtesy Beatrice Trussardi Foundation

In dieser Alpenhütte Hütte in Val Fex hat der Künstler Pawel Althamer seine "Franciszek"-Installation eingerichtet

Der Künstler Paweł Althamer feiert in einer Engadiner Alpenhütte den heiligen Franziskus, die Armut und die Einsamkeit. Der Weg zur Einsiedelei hält Überraschungen bereit, am Ende aber rührt die Einfachheit der Geste. Ein Pilgerbericht

Völlig hatte ich vergessen, wie mühsam es ist zu fliegen. Trotz Online-Check-in gibt es keinen Boarding-Pass, also doch zum Schalter. Dann ist plötzlich das Handgepäck zu groß ("Aber, aber – ich bin doch immer mit genau diesem Trolley verreist." Ich erhalte ein ausgeblichen müdes Lächeln als Antwort.) Ergo Umpacken des Laptops in die verschrumpelte Totebag, die eigentlich für die miefigen Socken eingepackt war – so hatte ich mir das erste Mal BER nicht vorgestellt. Die Routinen beim Airline- und Security-Personal laufen alles andere als reibungslos ("Hier dürfen Sie nicht rein, gehen Sie zum Sicherheitscheck 1 oder 5!", werde ich ungefragt angeblafft, was sich nach unnötig gelaufenen Parabeln als falsch herausstellt. Minuten später komme ich an selbiger Stelle doch durch. "Und wo geht’s bitte zum Gate?"). Ich komme mir vor wie ein blutiger Anfänger, mein Rücken wird klamm.

Dabei waren die Jahre zuvor meine Augenverdreher immer so groß wie das Riesenrad am Wiener Prater, wenn vor mir irgendwelche Pauschaltouristinnen und -touristen "mal wieder" ein Krombacher-Partyfass aus dem Handgepäck friemelten oder ihre Jagdmessersammlung mit viel Gezeter vorm Kofferröntgen aushändigen mussten. Und dann geht es auch noch nach St. Moritz. Ich wollte doch mondän wirken. Jedoch scheitere ich bereits vor der Startlinie wie Heidi in Manhattan. 

Am Zürcher Flughafen angekommen, steigen eine britische Kollegin und ich in eine schwarze, schwäbische Limousine und fahren in den Schweizer Nobelort, der mir trotz zahlreicher Schweizreisen immer verwehrt geblieben ist. Ich denke an die Klischees vom Boulevard-TV: Hier ist man reich um des Reichseins willen. Gegen die Zeit ankämpfende Menschen, die unter der Haut mehr Botox und Hyaluron als Hämoglobin tragen. Mit Tüchern von Hermès putzt man sich allenfalls die gerichteten Nasen. Wir befahren den unfassbar schönen Julierpass. Malerische Serpentinen, die nach Querdynamik schreien. Ein paar Mal habe ich mit Autos schon die Alpen überquert. Aber dieser Pass ist einzigartig, das Licht bricht an den Bergen in der Abendsonne wie durch samtene Konzerthausvorhänge. Selbst die grasenden Kühe scheinen Omega-3-Fettsäuren und Gelee Royal als tägliche Nahrungsergänzungsmittel zu bekommen, so prächtig sind sie.

"Sie haben den besten Teil bereits verpasst"

Wir sind spät, Beatrice Trussardi und Massimiliano Gioni erwarten uns bereits. Der Rest der Journalistinnen und Journalisten ist natürlich schon zugegen, smart casual herausgeputzt und frisch geduscht. Am Kulm Country Club angekommen, entreiße ich dem ambitionierten Service-Personal noch hektisch meinen Koffer, der schneller verstaut werden will als ein Bugatti Chiron die 100 erreicht, krame nach einem Hemd und werfe es mir in der Toilette über, damit mein bunt bedrucktes weißes T-Shirt übertüncht wird.

Gioni, Direktor des New Museum in New York und künstlerischer Leiter der Fondazione Nicola Trussardi, befindet sich inmitten seiner Ansprache. "Ach so, guten Abend, Sie haben den besten Teil bereits verpasst", unkt er vorwurfsvoll mit spitzem Blick, "nun weiß leider auch der Rest, dass es nichts Erwähnenswertes mehr zu berichten gibt." Raunendes Lachen. Parlieren und Pointen kann Signore Gioni gut. Die besten Punchlines wird er am nächsten Abend vor einer vergrößerten Runde aus Kunstprominenz, Freunden (unter anderem Gioni-Kumpel Maurizio Cattelan), Elitenklientel und anderen betuchten Gästen genauso wieder zum Besten geben. Wo ist überhaupt mein Glas zum Anstoßen? Es muss wohl jemand weggeräumt haben.

"Konsum von Drogen nicht geplant"

Beatrice Trussardi, ehemalige CEO des Mailänder Luxusunternehmens Trussardi und Vorsitzende der Nicola-Trussardi-Stiftung, hat die neue nach ihr benannte Beatrice-Trussardi-Stiftung gegründet. Trotz ihres Namens und ihrer Privilegien versteht sie sich nicht als Sammlerin, vielmehr als Kunstunternehmerin und möchte nomadische Räume für Kunst schaffen, neue Wege ermöglichen, und sie sei stolz und erfreut, ihre erste Kooperation morgen vorstellen zu können. Der Warschauer Künstler Paweł Althamer arbeite seit rund zwei Wochen in einer verlassenen Engadiner Alphütte und setze, während es bei uns Rinderfilet, Smalltalk und einen kontrastreichen wie vollmundigen Merlot Ticino Agriloro gibt, die letzten Feinschliffe an seiner Skulptur.

Seit einiger Zeit lebt Trussardi mit ihrer Familie in Pontresina. Sie hat sich weitestgehend vom Tagesgeschäft der Familiendynastie distanziert. Sie wirkt schüchtern und weiß anders als Gioni nicht mit zitierfähigen Nebelkerzen Menschen um sich zu scharen. Ihr Lächeln ist dezent. Und auch wenn sie in einer auf Repräsentation und Status fokussierten Society aufgewachsen ist, spricht sie verschlossen und leise, erscheint dabei oder wohl deshalb aufrichtig und sympathisch.

Sie erzählt, wie sie den Ort der Installation während einer Wanderung Richtung Val Fex entdeckte und die Eingebung fand, diesen mit Kunst auszustaffieren. Auch wir werden morgen diese Wanderung machen. Paweł Althamer arbeite immer wieder mit künstlerischen Akzenten und narrativen Elementen, die nicht unmittelbar als Teil seines Werks auszumachen sind. Natur, Umwelt und spirituelle Energien seien genauso integraler Part seiner Expressionen. Wie bei seinen Arbeiten "Sciezka" von 2007 oder auch "Manifesta" von 2000, in der er mit Komparsen arbeitete, die vermeintlich Alltägliches inszenierten, um die Frage von Kunst im öffentlichen Raum zu diskutieren.

Erster Halt: Waldhaus Sils

Auch wir sollen uns überraschen lassen, was während unseres Gangs geskriptet sei oder nicht. Mehr wolle man nicht erzählen. Die Spannung in der Gruppe steigt. Man erwarte etwas ganz Besonderes, wird mir von einem sizilianischen Kollegen angeregt berichtet. "Der Künstler Paweł Althamer experimentiert gerne mit Drogen", erläutert Kurator Gioni, nachdem er die Aufmerksamkeit der Tafel auf sich gerichtet hat, "er setzt sich auch künstlerisch mit diesen Erfahrungen auseinander. Dafür ist er bekannt. In unserem Programm ist der Konsum von Drogen nicht geplant. Aber bei Bedarf können wir mit Telefonnummern aushelfen." Ein Brüller.

Am nächsten Morgen fahren wir in Sils Maria ein viel zu kurzes Stück in einer Pferdekutsche hoch ins Waldhaus Sils. Dekadenz ist niemals rational. Das Waldhaus ist Nobelhotel, sagenumwobenes Silvester-Refugium der internationalen Kunstszene und ein Paradebeispiel dafür, wie mein Lebensabend aufgrund voraussichtlich mangelnder Kapazitäten ganz bestimmt nicht aussehen wird. Die exklusive Lobby ist pompös, zugleich morbide, und mit dem Walzer-Trio aus Piano, Violine und Kontrabass wirkt alles wie ein Setting von Stanley Kubrick.

Einfache, aber doch meditativ anmutende Satzgesänge

Paweł Althamer sitzt bereits an einem der gestärkten Tische. Es werden Kaffee, Orangensaft und Croissants gereicht. Althamer trägt ein verblichenes, taubenblaues T-Shirt mit Salzrändern, die wie Ozeanabbildungen auf einem Globus schimmern. Sein Trekkingrucksack und seine Funktionsschuhe lassen nicht vermuten, dass er der Star des Tages ist. Sein muskulöser, drahtiger Oberkörper wirkt gestählt durch Arbeit und nicht durch instagramtaugliches Flexen im Gym. Seine Haut trocken und bergsonnengegerbt. Die kräftigen Hände übersät mit Blasen, Schrunden und Schnitten. Eben wie jemand aus den Bergen. Statement, körperlicher Preis seines künstlerischen Schaffens und authentische Verweigerung zugleich. Ein embedded artist?

Wir machen uns auf den Weg. Die Gruppe plärrt laut vor sich hin. Ältere Wanderpärchen überholen den trägen Tross schnaubend und angenervt wie in ihren Porsches auf der Autobahn. So richtig Kontemplation und Naturverbundenheit will sich noch nicht einstellen. Ich laufe daher ein Stück vorneweg, genieße den Blick auf den See rechts von mir und plötzlich setzt versteckt hinter den Hügeln sirenengleich ein traditioneller rätoromanischer Gesang ein. Ich entdecke eine Frau und einen Mann, die einfache aber doch meditativ anmutende Satzgesänge von sich geben.

Pawel Althamer "Spacer [The walk]" von Sils Maria nach Val de Fex am 11. Juli 2021. Performance und Real Time Movie
Foto: Marco de Scalzi, Courtesy of the Beatrice Trussardi Foundation

Pawel Althamer "Spacer [The walk]" von Sils Maria nach Val de Fex am 11. Juli 2021. Performance und Real Time Movie

Wenig später sehen wir einen jungen Mann mit eigentlich zu akademischer Brille aber kräftigem Bizeps eine große Ladung Holz hacken. Das müssen die easter eggs sein, von denen tags zuvor noch die Rede war. In den Gesprächen ist vom Paradies die Rede. Ein Thema, das Beatrice Trussardi und Massimiliano Gioni immer wieder aufs Tapet bringen. Die Natur, die satten Alpwiesen, die Farben, die Ausblicke und das pittoreske Wetter sind in der Tat paradiesisch.

Später taucht das Gesangsduo erneut an einem Hang auf. Ich suche mir eine Bank, lausche den Bordun-Intervallen, verweile einige Minuten und lasse die Gruppe an mir vorbeiziehen. Als ich wieder Anschluss suche, ruft der sizilianische Kollege mir zu: "Mann, du bist das! Von hinten dachte ich, du wärst Schauspieler und Teil der Installation!" Mein Blick fällt auf die silbernen Steine, die den Wanderweg pflastern. "Die Schweiz ist so reich, hier wird sogar der Bodenbelag versilbert", spreche ich in mich rein. Ich sammle ein paar als Mitbringsel auf. Als ich ein besonders strahlendes Exemplar aufhebe, entpuppt es sich als Alufolie. Beleidigt werfe ich es wieder weg. Oder hat Paweł das Stück etwa absichtlich dorthin platziert und genau dasselbe gedacht?

Pawel Althamer "Spacer [The walk]" von Sils Maria nach Val de Fex am 11. Juli 2021. Performance und Real Time Movie
Foto: Marco de Scalzi, Courtesy of the Beatrice Trussardi Foundation

Pawel Althamer "Spacer [The walk]" von Sils Maria nach Val de Fex am 11. Juli 2021. Performance und Real Time Movie

Eindeutig inszeniert ist indes das Alphorn-Quartett, das seine brummenden Polyphonien in die weiten Täler schallen lässt. Irritierte Mountainbike-Sportler schlängeln sich vorbei. Es ist wie eine Mikro-Gentrifizierung, wenn kulturbeflissene Reisegruppen Einheimischen die angelernten Wege wegen der Kunst blockieren und den Verkehr aufhalten.

Pawel Althamer "Spacer [The walk]" von Sils Maria nach Val de Fex am 11. Juli 2021. Performance und Real Time Movie
Foto: Marco de Scalzi, Courtesy of the Beatrice Trussardi Foundation

Pawel Althamer "Spacer [The walk]" von Sils Maria nach Val de Fex am 11. Juli 2021. Performance und Real Time Movie

Schliesslich kommen wir an der Hütte an, an dem Althamers Werk "Franciszek" steht. Der heilige Franziskus, der als Sohn eines reichen Tuchhändlers in Assisi aufwuchs und mit seiner Familie brach, um nur noch Gott als Vater anzuerkennen. Daraufhin in Askese lebte, den Orden der Franziskaner gründete, eine besonders innige Beziehung zu Tieren und Natur aufbaute und sogar in der Lage war, wilde Wölfe zu zähmen.

Hier der Moment, in dem Franz sich auf dem Marktplatz von Assisi vor den Augen des Bischofs und seines Vaters seines feinen Brokats und der materiellen Welt entledigt und entsagt. Euro- und Zlotymünzen liegen zu seinen Füßen. Seine Brust verwest herzseitig. Heu lugt hervor. Kakerlaken und anderes Ungeziefer überziehen seinen nackten Körper. Sein Bart und seine Haare bestehen aus Moos und Kräutern aus der umliegenden Berglandschaft. Über seiner Scham klebt Lehm oder gar Kot, und an seinem Hinterkopf befindet sich ein rätoromanisches Tattoo: "Ei Nu Sum Da Quist Muond" – Ich bin nicht von dieser Welt.

Pawel Althamer "Franciszek", 2021.Blick auf die Installation in einer Berghütte aus dem 17. Jahrhundert, Val Fex
Marco de Scalzi, Courtesy of the Beatrice Trussardi Foundation

Pawel Althamer "Franciszek", 2021.Blick auf die Installation in einer Berghütte aus dem 17. Jahrhundert, Val Fex

Eine eifrige und doch vertrauenswürdige Ziegenherde umgibt Franziskus. Die Ziegen fressen Heu, Apfelstücke, die in seiner rechten Hand liegen. Sie nutzen die Finger der Skulptur als Massagestab, kratzen sich daran, werfen die Arbeit beinahe um und verrichten im Ausstellungsraum ihre Geschäfte. Paweł Althamer hat in der Zeit eine liebevolle Beziehung zu den Tieren aufgebaut. Er streichelt und knuddelt sie herzhaft und kraftvoll. "Es ist ihr Raum, war es zuvor und wird es immer bleiben. Nur wegen meiner Arbeit werde ich sie nicht ihrer Heimat verbannen", berichtet der Künstler.

Vor acht Tagen wurde auf dem Hof ein Baby-Zicklein geboren. Ihr Name: Francesca. Das Kunstprojekt im Engadin greift Raum. Später wird die kleine Francesca vermisst, ihre Mutter ruft immer lauter nach dem Kind. Die Herde wird unruhig und mobilisiert sich. Sie scheinen sich abzusprechen und gemeinsam zu suchen. Schläft es nur im Dickicht oder ist Francesca gar in den Bach gefallen? Niemand weiß es. Ich drehe eine Runde um die Hütte, vielleicht finde ich das kleine Kind. Ohne Erfolg, bin aber ergriffen von den universellen Ambiguitäten, die Kunstnarrative manchmal mit sich bringen.

Pawel Althamer "Spacer [The walk]" von Sils Maria nach Val de Fex am 11. Juli 2021. Performance und Real Time Movie
Foto: Marco de Scalzi, Courtesy of the Beatrice Trussardi Foundation

Pawel Althamer "Franciszek", 2021.Blick auf die Installation in einer Berghütte aus dem 17. Jahrhundert, Val Fex

Im Hotel Sonne im Val Fex essen wir zu Mittag. Paweł Althamer setzt sich zu mir und wir bestellen beide einen Kübel Bier, wie man hier zu sagen pflegt. Es ist aber nur ein halber Liter. Althamer erzählt, wie er am Tag zuvor eine besonders innige Kommunikation mit einem Pferd hatte, es herzte und drückte und dabei einen tiefen nonverbalen Austausch und metaphyische Energien empfand. Er berichtet auch, dass er sich im letzten Jahr scheiden ließ und hier während seiner Arbeit wie ein Eremit in einer einfachen Hütte lebte und eben nicht im schicken Waldhaus Sils. "Franciszek" ist also mehr als eine Kritik am Katholizismus, der in seiner Heimat Polen eine so erdrückende Rolle spielt. Paweł ist auch Franziskus. Ein Mensch, der sich mit der Natur, den Tieren und ihren Energien stets neu zu verbinden versucht. Weil in der Tat die Natur einem oft mehr gibt als Geld oder Erfolg, Gucci oder Moncler.

Ich erzähle ihm von einem Rabenpärchen, das wir in Berlin letzten Winter mit Walnusskernen gefüttert haben. Jeden Morgen legten wir eine Handvoll Nüsse auf die Fensterbank. Die Raben kamen regelmäßig und wurden immer zutraulicher. Nach drei Wochen vergaßen wir für ein Wochenende die Fütterung – und am Montagmorgen lag auf dem Fensterbrett eine fein ausgeputzte Walnussschalenhälfte genau dort, wo sonst immer das Futter lag. Noch nie zuvor lag dort auch nur irgendwas und sei es eine runtergefallene Kippe. Die klugen Vögel müssen die Schale absichtlich platziert haben. Die Raben sprachen zu uns. Paweł Althamer ergreift die Geschichte, wie auch mich, obwohl ich sie schon oft erzählte. Gemeinsam verdrücken wir eine Träne der Demut und Freude. Das Paradies ist immer heute.

Besucherinnen und Besucher vor der Einsiedelei von Pawel Althamer
Foto: Marco de Scalzi, Courtesy of the Beatrice Trussardi Foundation

Besucherinnen und Besucher vor der Einsiedelei von Pawel Althamer