Wolfgang Tillmans

Freischwimmer im Bildraum

Der Titel ist mit Vorsicht zu genießen. „Abstract Pictures“? Kann Wolfgang Tillmans Begriffsschablonen wie „abstrakt“ und „gegenständlich“ doch selbst nicht leiden. Gegenstandslose Kunst ist ohnehin eine Schimäre. Wie ein inhaltsarmes Bild selbst Gegenstand wird, hat Tillmans exemplarisch vorgeführt, indem er Fotopapier faltete und als Skulptur ausstellte.

Im Zentrum dieses abenteuerlichen Bildbandes stehen nun Fotos ohne Kamera aus den Nuller-Jahren. Feines Elfenhaar gleitet in der „Freischwimmer“-Serie durch rote, grüne, neblig-graue Bildräume, mal wie gekämmt, mal störrisch ausgefranst, hier und da aufgelöst wie Tinte im Wasser. Und der Reihentitel „Silver“ fasst Fotografien zusammen, die durch Fehler im Entwicklungsprozess zustande gekommen sind. Nur dass Tillmans solche Störungen, die jeden Werbefotografen zur Weißglut treiben, schon immer als Produktivkraft seiner Kunst begriffen hat.

Schon immer? Neben dem vorzüglichen Essay von Dominic Eichler sind dem üppigen Bildteil kluge Anmerkungen des Künstlers vorangestellt, den von Anfang an die reine Form in der Fotografie gefesselt hat. Seltsam, dass sein perspektivisch verzerrtes, stark abstrahiertes frühes Selbstbildnis „Lacanau (self)“ (1986) nicht abgebildet ist. Immerhin bezeichnet Tillmans dieses Foto als sein „Coming-out als Künstler“. Dafür finden sich frühe wie aktuelle Belege seiner Faszination für die Fotokopie, die es erlaubt, zärtliche oder raue Schleier über Landschaften, Menschen oder Städte zu legen.

Sein Ausscheren aus der Übereinkunft, wie ein schönes, wahres, gutes Foto auszusehen hat, begreift der Künstler als indirekten politischen Akt. Die Formexperimente schaffen einen Kosmos aus Unterscheidungen (wie seine eher dokumentarischen Fotos krasse Unterschiede notieren). Tillmans’ Werk ist das eines Universalisten: Er umarmt die Welt.

Wolfgang Tillmans „Abstract Pictures“. Auf Deutsch und Englisch, Hatje Cantz, 384 Seiten, 49,80 Euro