Künstlerin Igi Lọ́lá Ayedun

"Veränderung kommt von Aktion"

Die Künstlerin Igi Lọ́lá Ayedun will mit ihrer HOA Cultural Society die Vielfalt in der brasilianischen Kultur fördern. Wir haben mit ihr über Strategien gesprochen, wie die Kunst auf den globalen Backlash in Sachen Diversität reagieren kann

Die Vielfalt in der brasilianischen Kunst will die neue gemeinnützige Organisation HOA Cultural Society fördern, die die 35-jährige Künstlerin, Kulturmanagerin und Ex-Galeristin Igi Lọ́lá Ayedun jetzt in São Paulo gegründet hat. Geplant ist ein Stipendien- und Ausbildungsprogramm, ein Kunstpreis für Künstlerinnen und Künstler aus benachteiligten Communitys, eine kostenlose Kunstakademie und ein internationales Residenzprogramm in Kooperation mit dem Institute Français und der französischen Botschaft in Brasilien. Zur Messe SP Arte in April wird HOA außerdem auf dem Pinheiros-Fluss einen schwimmenden Pavillon errichten, in dem Ausstellungen gezeigt werden.

Igi Lọ́lá Ayedun, wie hat sich Ihr Interesse an zeitgenössischer Kunst entwickelt?

Ich habe mich immer als Künstlerin gefühlt, schon als Kind. Ich wuchs in einer traditionellen Sambaschule auf, die meine Familie in unserem Viertel in der Innenstadt von São Paulo gegründet hatte, und war ständig von dem künstlerischen Team umgeben, das an Kostümen arbeitete und die Skulpturen für den Karneval baute. Die Kunst lag mir schon immer im Blut. Ich stamme aus derselben Familie wie Geraldo Filme, der in den 1940er-Jahren als Vater der Samba in São Paulo bekannt wurde. Die Kunst ist tief in meiner Familie verwurzelt. Aber ich bin auch schon früh mit zeitgenössischer Kunst in Berührung gekommen, schon in meiner Kindheit. Mein Vater war Direktor der Fundação Cultural Palmares, einer Abteilung des brasilianischen Kulturministeriums, die sich der Kunst und Kultur der afrikanischen Diaspora widmet. Er war ein einflussreicher linker Politiker, der sich für die Schwarzen in Brasilien einsetzte. Einer seiner engen Freunde war der Aktivist und Maler Sidney Lizardo, genannt Lizar. Ihn kennenzulernen, veränderte alles für mich. Ich verbrachte unzählige Stunden in Lizars Atelier, und da wurde mir zum ersten Mal klar, dass ich eines Tages Künstlerin werden könnte. Aber durch ihn sah ich auch, selbst als Kind, wie frustrierend es war, ein Schwarzer Maler in Brasilien zu sein. Und das war in den frühen 2000er-Jahren. 

Sie haben ihre Karriere in der Modebranche gestartet und zehn Jahre lang in Paris mit Luxusmarken gearbeitet. Wo sehen Sie Analogien von der Mode zur zeitgenössischen Kunst?

Ich glaube, dass Schöpfung gleich Schöpfung ist, egal in welchem Medium. Die Mode als Branche ist nicht von der Natur aus mit der Kunst verbunden, aber die Kunstwelt wird heutzutage definitiv stark von der Mode beeinflusst. Ich betrachte die Haute Couture als eine Kunstform. Damit meine ich nicht nur die Pariser Regeln, die von der Akademie aufgestellt werden, sondern jede Art von tragbarer Kreation, die Ergebnis von Forschung und hochwertiger Handwerkskunst ist - unabhängig davon, woher sie kommt.

Ihre Galerie House of Ayedun (HOA) war die erste in Brasilien, die von einer Schwarzen geführt wurde und einen Fokus auf Schwarze und indigene Künstlerinnen und Künstler hatte. Jetzt bringen Sie HOA in São Paulo auf ein neues Level und gründen die HOA Cultural Society als Nonprofit-Organisation. Was ist die Idee dahinter?

HOA Cultural Society ist eine Brücke, ein Inkubator, ein Raum, in dem junge Talente zu Künstlerinnen und Künstlern heranwachsen können. Es ist eine Plattform, die den Zugang zu zeitgenössischer Kunst demokratisiert, jüngeren Generationen eine breitere Perspektive bietet und die Entwicklung kritischen Denkens fördert. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Kunsterziehung, der Unterstützung durch Preise und Residenzen. Unsere Aufgabe ist es, Talente zu fördern, Ressourcen bereitzustellen und aufstrebende Künstlerinnen und Künstler auf ihrem Weg zur Professionalisierung zu begleiten. Es geht darum, zeitgenössische Kunst als Instrument für soziale Veränderung zu nutzen.

In vielen Ländern, allen voran in Trumps USA, sind wir mit einem ernsthaften Backlash in Bezug auf Vielfalt und Menschenrechte konfrontiert. Spüren Sie das auch?

Ich glaube, die westlichen Gesellschaften haben keine Angst mehr davor, offen rassistisch zu sein. In den letzten Jahren standen Inklusion und Vielfalt im Vordergrund. Das hat bei vielen Weißen eine Art Paranoia ausgelöst - eine Angst vor dem Verschwinden und dem Verlust ihrer Privilegien. Es ist wichtig, zu verstehen, dass das Weißsein als politisches System auf Ungleichheit als Machtmechanismus beruht. Wenn diese Grundlagen infrage gestellt werden, fühlt sich das für sie wie eine Bedrohung an, weil das System nicht darauf ausgelegt ist, Macht zu teilen oder gleiche Rechte gelten zu lassen. Was in den USA und in Europa mit der extremen Rechten geschieht, ist zutiefst frustrierend. Ihre Strategie zielt darauf ab, jahrzehntelange Fortschritte der sozialen Bewegungen zu demontieren. Aber selbst angesichts dieser äußerst konservativen Welle bleibt die Zukunft multikulturell. Die globale Mehrheit ist real und prägt bereits die Welt, in der wir leben. Jetzt müssen wir informiert bleiben, der Bildung Priorität einzuräumen und gegen Fehlinformationen zu kämpfen. Es ist wichtig, dass die Menschen sich erden und nicht verrückt werden angesichts dieser chaotischen Strategie der Strukturlosigkeit.

Sind die Sammler und Sammlerinnen in Brasilien bereit, Vielfalt und Schwarze Künstlerinnen und Künstler zu unterstützen? 

In den fünf Jahren seit der Gründung von HOA hat sich viel verändert. Die brasilianische Gegenwartskunst ist vielfältig. Aber es muss sich noch viel entwickeln - zum Beispiel ein tieferes Verständnis für die Hintergründe Schwarzer Künstler in einem Land, in dem Ethnie und soziale Stellung eng miteinander verbunden sind. Ich glaube nicht, dass der Kunstmarkt, insbesondere der Sekundärmarkt, viel Bewusstsein dafür hat. Als ich Galeristin war, war meine Galerie die einzige, die bei allen Ankäufen ein obligatorisches Folgerecht einführte. Der Widerstand, auf den ich bei den Sammlerinnen und Sammlern stieß, war enorm. Sie konnten nicht begreifen, was Eigentum und Erbe in marginalisierten Communitys bedeutet, und sie konnten auch nicht verstehen, wie wichtig es ist, dafür zu sorgen, dass ein Teil dessen, was wir schaffen, an uns und unsere Familien zurückfließt, damit wir nachhaltig etwas aufbauen können. Im Moment fühlt sich ein Großteil der Unterstützung rein ästhetisch an. Damit sich die Dinge wirklich ändern, muss diese Unterstützung politischer werden und sich auf Taten statt auf Äußerlichkeiten stützen. 

Unterstützt der Staat die Diversität in der Kultur?

Die zeitgenössische Kunst in Brasilien ist nach wie vor eine Elite-Bubble. Öffentliche Initiativen konzentrieren sich eher auf populäre Dinge, sodass die zeitgenössische Kunst nicht die breite Zugänglichkeit und Sichtbarkeit erhält, die sie verdient. Damit sie sich wirklich entfalten und das ganze Land erreichen kann, braucht sie mehr Unterstützung von Seiten der Regierung. Dazu gehören mehr Bildungsprogramme, eine breitere Anerkennung ihres Wertes. Nur dann kann sie aus ihrer Exklusivität ausbrechen und zu einem echten Spiegelbild der Vielfalt und Kreativität Brasiliens werden. 

Wo sehen Sie die Rolle der Kunst in der Gesellschaft? 

Ich glaube nicht, dass die Kunst allein die Welt verändern kann. Ich glaube, wir sind ein wenig von der Vorstellung besessen, dass etwas wie Duchamps Pissoir immer noch ein bahnbrechendes Störelement in einem White Cube sein kann. Wir müssen verstehen, was Kunst im heutigen zeitgenössischen Kontext bedeutet. Veränderung kommt von Aktion! Ein Kunstwerk kann definitiv die Sichtweise der Menschen auf die Welt verändern. Aber nur, wenn Kunst zu einer Bewegung wird - etwas mit echter Mobilisierungskraft -, kann sie wirklich etwas bewirken. Im Zeitalter der Bilder ist es kein Aktivismus, ein Kunstwerk an die Wand zu hängen. 

Was bringt Ihnen persönlich der Kontakt mit zeitgenössischer Kunst?

Er gibt mir jeden Tag eine neue Perspektive auf die Welt - die Chance, über den Tellerrand hinauszuschauen und zu denken. Es ist ein weiterer schöner Grund, das Leben immer wieder aufs Neue zu lieben.