Neu im Kino

Im Zeichen der Fliege

Eine kleine Fliege sitzt auf dem Gemälde des Meisters. Er versucht sie zu verscheuchen. Mehrmals. Bis er bemerkt, dass sein Lehrling das Insekt täuschend echt auf die Leinwand gemalt hat. Der Meister wird blass. Sein Schüler hat ihn übertroffen. Fortan wird die Fliege zum Symbol künstlerischen Fortschritts.
 
Die Legende mit der Fliege erzählt man sich seit dem Mittelalter. Sie wurde Künstlern wie Giotto oder Karel van Mander zugeschrieben. Einig war man sich immer: Wer die Fliege für sich beanspruchen kann, der vermag Großes zu leisten.
 
Nun hat ein Künstler unserer Zeit die Fliege für sich entdeckt. Sie krabbelt, fliegt und summt sich durch sein komplettes Œuvre: Für Ilya Kabakov (hier im Interview mit Monopol) ist die Fliege eine Ikone seiner Heimat, der ehemaligen Sowjetunion. Überall seien Fliegen gewesen, sagt er, im Chaos, im Dreck, im Müll. Sie beherrschten den Lebensalltag, kamen durch jede Ritze und Ecke. Um zu beobachten, um zu nerven.
 
Damit spielt der ehemalige Kinderbuchillustrator auf das politische Regime an. Gewählt hat er eine Bildsprache, die so realistisch wie phantastisch ist. Diesen phantastischen Realismus haben Kerstin Stutterheim und Niels Bolbrinker jetzt in einem liebevollen Dokumentarfilm eingefangen. Ab Donnerstag ist "Fliegen und Engel. Ilya & Emilia Kabakov und die Kunst der totalen Installation" im Kino zu sehen.
 
Die Fliege als Metapher
Die Fliege, so erzählt der kräftige Mann mit dem graugelocktem Haar und diesem verschmitztem Lächeln, erinnere ihn auch an die Form eines Autos. Das Auto als Abbild für rastlose Menschen. Menschen, die keinen festen Grund mehr unter ihren Füßen haben. Es raschelt, wenn der Künstler seine Zeichnungen von Pergamentpapier befreit und in die Kamera hält: Fliegende Menschen über der Stadt. Sie heben ab, sie schweben, sie fliegen, sie verflüchtigen sich. "Und die meisten werden einfach nur durchsichtig", sagt er.
 
Stutterheim und Bolbrinker lassen den Künstler und seine Frau Emilia Kabakov viel erzählen. Über das Leben mit ihrem Mann, über dessen Kunst. Oft besprechen beide neue Projekte, tauschen Ideen aus. Die Kamera ist wie ein stiller Begleiter immer dabei. Dazwischen werden Bilder aus dem heutigen Russland gezeigt. Hektische Menschen in überfüllten U-Bahnstationen. Dreck auf Straßen. Wohngemeinschaften in maroden Sozialbauten. Durch diese parallel laufenden Bilder spüren die Regisseure dem Leben Kabakovs nach, zeigen das Zusammenspiel zwischen Werk und Wirklichkeit.
 
Reisebericht durch Kabakovs Kosmos
Es ist die Verbindung von Erzählung und Visuellem, die Kabakovs Arbeit ausmacht. Er sei immer an dieser Art von Synkretismus interessiert gewesen, sagt er. Dem Interesse werden auch die Regisseure gerecht: Zwischen den Bildern und Szenen, die Kabakov und sein Leben unkommentiert zeigen, bilden die Dialoge zweier fiktiver Protagonisten, die eine Kabakov-Ausstellung besuchen, einen zweiten Erzählstrang. Es ist wie ein Reisebericht durch Kabakovs Kosmos.
 
Am Ende des Films bleibt das Gefühl, dem Künstler und seinem Werk sehr nahe gekommen zu sein. Ein Gefühl, das nicht schnell vergehen mag. Denn, so sagt Ilya Kabakov selbst: "Eine gemalte Fliege ist nur schwer zu verscheuchen."
 
Kerstin Stutterheim und Niels Bolbrinker "Fliegen und Engel. Ilya & Emilia Kabakov und die Kunst der totalen Installation", ab dem 13. Mai 2010 im Kino