Künstler Julien Creuzet

"Wir müssen über Herkunft nachdenken, um Neues zu schaffen"

In den Installationen des französische Künstlers Julien Creuzet schweben die Dinge zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ein Gespräch über Bewegungsfreiheit in der Kunstwelt und Werke, die man nicht verstehen, sondern fühlen muss

Linien aus buntem Strandgut, die ein Außen und Innen bilden. Eingewebte Stoffe, Pflanzen, Flaschen, Figuren. Plus Gedichte an der Wand, Bildschirme mit Loop. Julien Creuzet macht Installationen, Skulpturen, Filme, Sounds. Und wird dafür gerade international beobachtet. Der 1986 Geborene lebt und arbeitet in Frankreich als Poet und visueller Künstler. Seine Themen kreisen um das Heute und wie das Gestern dort hineinwirkt. Diaspora, Kolonialgeschichte, die Geschichte Martiniques, wo er aufwuchs.

Creuzet nahm bereits an einigen Biennalen teil, hatte Einzelausstellungen im Palais De Tokyo und aktuell im Centre Pompidou, da er für den 21. Prix Marcel Duchamp nominiert war (den dann allerdings Lili Reynaud Dewar gewann). Er ist außerdem Gewinner der BMW Art Journey 2021, für die er auf Martinique "nach dem Unerwarteten und Überraschenden suchen und das Umfeld seiner Vorfahren erforschen" will. Im Centre Pompidou spricht er über seine Arbeit, eine Hommage an Jacques Coursil, Linguist, Philosoph, Mathematiker, Trompeter, der 2020 gestorben ist und ihm beigebracht habe, dass Poesie vom "Wir" nicht vom "Ich" handelt. 

Er erklärt das Entstehen seiner Exponate, etwa ein verschwommen aufgenommenes Smartphone-Video aus Martinique, eine Skulptur, bei der er an eine weibliche Sklavin denke, die etwas Schweres auf dem Kopf trage, oder ein Blatt aus Martinique, das er durch den Zoll schmuggeln musste, indem er es gar nicht erst versteckte, sondern einfach in der Hand hielt. Doch das wichtigste sei zu schauen, zu fühlen, zu hören, sagt er. Sich selbst darin zu verlieren.

Julien Creuzet, mir wurde gesagt, Sie würden sich nicht besonders wohl damit fühlen, über Ihre Kunst zu sprechen.

Ich fühle mich sehr wohl damit, über meine Arbeit zu sprechen. Ich habe viel zu erzählen, aber ich glaube, es ist manchmal besser, nicht alles zu verstehen, sondern stattdessen zu fühlen. Kunst ist zum Fühlen da. Wenn man sich keine Zeit nimmt, zu schauen, sich eigene Fragen zu stellen, dann macht man einen Fehler. Eine Erklärung bedeutet nichts. Manchmal sehen Leute nicht, sondern hören nur, was die Kunst ist.

Auf der Art Journey, die Sie gewonnen haben, suchen Sie nach dem Unerwarteten, heißt es in der Mitteilung. Ist das eine Freiheit?

Versuchen, frei zu arbeiten und zu sein ist sehr wichtig, aber auch sehr schwierig. Vor allem mit dieser speziellen Organisation, und in dieser kapitalistischen Gesellschaft. Ich versuche mit verschiedenen Parametern zu spielen. Der BMW-Preis ist ein Parameter. Er ist mit Sichtbarkeit verbunden, aber ich muss schauen, wie ich mich in dieser Situation bewegen kann. Das ist wichtig als Künstler, und wenn eine große Firma sich dazu entscheidet, mit dir zu spielen. Ich möchte daran keine Kritik üben, aber es ist wichtig zu wissen, was da passiert und warum. Und sicher gehen, dass Menschen nicht mein Image manipulieren und meine Arbeit.

Kann man das denn beeinflussen?

Für mich ist das Teil meines Lebens, wenn ich Kunst mache, lege ich alles auf den Tisch, was ich habe.

Ihr Werk handelt auch von Identität. Ein sehr modernes Thema in Kunst und Literatur. Aber ich weiß immer nicht genau, was das ist.

Identität? Das ist eine gute Frage. Es ist eine wichtige Frage für die afrikanische Diaspora. Es gibt eine 500 Jahre lange Geschichte des Sklavenhandels, und man kann im Internet, bei Facebook die DNA bestimmen lassen, um herauszufinden, woher die Vorfahren kamen. Es gibt Menschen, die das tun müssen. Es gibt aber auch Menschen, die das nicht tun müssen, die haben Stammbäume, die sie lange zurück verfolgen können. Ich kann das nicht. Deswegen beschäftigen sich Künstler damit.

Woher das Interesse kommt, verstehe ich, aber steht sie nicht im Gegensatz zur Individualität?

Individualität ist eine Frage des Kapitalismus, keine Frage der Menschheit.

Der Philosoph Édouard Glissant, auf den Sie sich in Ihrer Arbeit auch beziehen sagt, Kultur entsteht durch Unterschiede.

Ja, seine Ideen sind sehr clever. Sie trinken sicher Kaffee, wenn Sie das tun, müssen Sie auch über die ganze Geschichte des Kaffees nachdenken und was passiert, bevor Sie diesen Kaffee am Morgen trinken können. Wenn man sich entscheidet, sich diese Fragen zu stellen, öffnet man sich für die Kolonialgeschichte und wie dieses System mit Migration zusammenhängt. Wir müssen uns über Herkunft Gedanken machen, um Neues zu kreieren. Immer wenn verschiedene Zivilisationen aufeinander treffen, entsteht Beherrschung, aber auch Widerstand und daraus entsteht wieder etwas, der Jazz etwa oder Reggae.

Also ist Widerstand der Motor für Kultur.

Ja, denn wenn wir der Denkweise Elon Musks nachgehen und den Mars einnehmen, denken wir nicht über die Erde nach, auf der wir gemeinsam leben. Menschen denken drüber nach, wie sie auf dem Mars leben können, weil sie Angst vor dem Weg haben, den wir für diese Erde gehen müssen. Es scheint einfacher auf einen anderen Planeten abzuhauen. Ein verrückter Gedanke.

Es geht bei der Betrachtung Ihrer Kunst ums Gefühl, sagen Sie, oder die Fragen die sich Besucher stellen. Aber geht es nicht auch darum, etwas über die Geschichte über Kolonialismus zu wissen? 

Um die Ausstellung zu verstehen?

Um die Welt besser zu verstehen, das ist doch das Ziel beim Betrachten von Kunst.

Wenn Sie eine Ausstellung besuchen und hinterher keine Fragen haben, dann ist es keine gute Ausstellung. Und wenn Sie abends ins Bett gehen und sich nicht fragen, was Sie am Tage gesehen haben, ist es kein guter Tag gewesen.