Drohnen-Fotos von Stephen Shore

"Ein Blick, den ich mir schon lange erhofft habe"

Der Fotograf Stephen Shore hat in seinem neuesten Projekt mit Kameradrohnen gearbeitet. Hier spricht er über die Verschiebung der Perspektive, Roadtrips in der Luft und Realitätsverweigerung in der US-Gesellschaft


Stephen Shore, würden Sie die Drohne beschreiben, mit der Sie die Luftaufnahmen für Ihr neues Buch "Topographies: Aerial Surveys of the American Landscape" gemacht haben?

Es handelt sich um eine mit einem Hasselblad-Objektiv ausgestattete Kameradrohne des chinesischen Unternehmens DJI. Sie ist sehr leicht zu bedienen, und der Monitor bildet absolut genau ab, was die Drohne sieht. Was mich überraschte, war, dass die Drohne felsenfest in der Luft steht. So als würde ich ein Bild mit meiner auf einem Stativ befestigten Fachkamera aufnehmen. Wenn ich will, kann ich den Bildausschnitt um den Bruchteil eines Zolls verschieben oder die Drohne auf und ab bewegen und die Höhe ändern.

Was hat Sie an der Arbeit mit der Drohne gereizt?

Wir alle machen uns ein mentales Bild, das mit dem optischen Bild nicht übereinstimmt. Ich kann einen Raum betreten und mir ein 360-Grad-Bild von allem machen, was sich in diesem Raum befindet. Aber eine Kamera kann nur sehen, was vor ihr ist. Ich kann in eine Stadt gehen und mir einen Überblick verschaffen, aber eine Kamera fotografiert immer nur einen Punkt. Die Drohne ermöglicht mir also einen Blick, den ich mir schon lange erhofft hatte. Aber ich bin nicht der erste, der mit einer Drohne fotografiert. Ich bin vermutlich der fünfmillionste Mensch, der das tut. Wenn ich ein Foto mit meinem iPhone mache, weiß ich, dass es eine Milliarde anderer Menschen gibt, die das gleiche tun. Es kommt auf das an, was man damit macht, und auf die Wahrnehmung, die man mitbringt. So ist es auch bei der Verwendung einer Drohne. Ich kann die Kultur und das Land auf eine Art und Weise untersuchen, die ich vom Boden aus vielleicht verstehen, aber niemals fotografien kann.

Sie haben die im Buch enthaltenen Landschaftsaufnahmen zwischen Juli 2020 und Juli 2021 zumeist in Montana, aber auch in anderen Staaten der USA gemacht. Nach welchen Kriterien haben Sie die Motive ausgewählt?

Wie jeder weiß, gab es im Frühjahr 2020 die Pandemie und den Lockdown. Meine Frau und ich hatten ein Haus in Montana, wo die Umstände sehr viel freundlicher waren als hier im Osten. Die Pandemie wütete dort einfach weniger stark. Dies war also mein Projekt. Ich konnte mit der Drohne losziehen, ohne mich dem Virus auszusetzen. Viele der Fotos sind aus diesem Grund in Montana entstanden. Ich hatte nicht vor, aus der Luft einen Roadtrip durch die gesamten USA zu fotografieren, habe aber eine Exkursion nach North Carolina und Maryland unternommen und andere Bilder in der Umgebung meines Hauses im Hudson Valley gemacht.

Der Zeitraum, in dem die Fotos entstanden, umfasste nicht nur die Pandemie, sondern auch den Mord an George Floyd, die Wahl von Joe Biden und den Sturm aufs Kapitol. Wie haben Sie die Lage des Landes zu dieser Zeit wahrgenommen?

Die vorherrschenden Dinge waren der Lockdown und der Mord an George Floyd sowie dessen Auswirkungen. Aber das ist nichts, was ich aus der Luft fotografieren könnte. Es hat also nichts mit den Bildern zu tun. Die Fotos zeigen Dinge über die Zeit im Allgemeinen in Bezug auf die Architektur, vielleicht in Bezug auf das Gefühl. Aber ich glaube nicht, dass sie sich mit etwas spezifisch Politischem befassen.

Das Foto, das die amerikanische Flagge auf dem Areal eines Wohnmobilhändlers zeigt, ist am 8. Januar 2021 entstanden – also am Tag nach der Bekanntgabe von Bidens Wahlsieg.

Das ist das eine Foto, das eine Reaktion auf ein Ereignis darstellt. Es gibt noch zwei Fotos von den Überresten eines Waldbrandes, fast am Ende des Buchs. Eines Feuers, das in der Nähe meines Hauses in Montana wütete.

Weshalb haben Sie die Flagge fotografiert?

Teils ist das Foto aus Unbeschwertheit entstanden. Eine Flagge über dem Grundstück eines Freizeitfahrzeug-Händlers. Andererseits verhieß die Flagge, dass wir überleben würden. Dass wir Trump überleben würden.

Dass die amerikanische Demokratie überleben würde?

Ja. Leider wird die amerikanische Flagge heute als ein politisches Symbol gesehen, nicht mehr als ein patriotisches. Aber so ist es von mir nicht gemeint, das Bild hat also keine rechtsgerichtete Aussage.

Was bedeutet Ihnen die Flagge?

Meine Frau und ich sind Patrioten, und die Flagge ist für sie etwas Wichtiges. Ihr Vater hatte bezüglich seines Alters gelogen, als er Anfang der 1940er-Jahre als 17-Jähriger in die Armee eingetreten war, und landete schließlich während der D-Day-Invasion am Strand der Normandie. Das machte seine Erinnerungen an seine Zeit als junger Erwachsener aus. Die Hälfte der Menschen, die er kannte, starben an diesem Tag, und so ist die Flagge in unserer Familie etwas, das wir am Memorial Day hissen. Es ist bedauerlich, dass sich einige Leute dieses nationale Symbol zueigen gemacht haben und es für sie zu einem Symbol des Rechtsextremismus geworden ist.

Aus der Vogelperspektive Ihrer Drohne wirken die Landschaften erhaben, während mir die von Menschen gebauten Straßen und Häuser eher hässlich erscheinen. Zeigt sich in Ihren Bildern eine Zivilisationskritik?

Vor schlichter Kritik habe ich mich immer gescheut. Es gibt ein paar Bilder von mir, die eindeutig kritsch gelesen werden können. Etwa das Cover meines Buchs "Uncommon Places", auf dem ein Restaurant namens Sambo’s zu sehen ist. Allerdings steht es nicht im Mittelpunkt des Bildes, sondern ist Teil einer komplexeren Szene. Was für einen Fotografen zugänglich ist, ist die gebaute Umwelt. Die natürliche Umwelt und wie sie durch menschliches Handeln, klimatische Einflüsse und die Zeit beeinflusst wird. Die kulturellen und natürlichen Kräfte drücken sich auf sichtbare Weise aus. Aber ich kann sie nicht erklären. Schreiben kann erklären. Fotos können äußerst zweideutig sein, aber sie erklären nichts. Sie zeigen die ökologischen und kulturellen Kräfte, die die Dinge sein lassen, wie sie sind.

Wie lesen Sie die Zeichen der Zeit? Gelingt es Biden mit seinem Infrastruktur-Programm, Amerika wieder aufzubauen?

Ich kann mich dazu nicht aufschlussreicher oder tiefgründiger äußern, als jeder andere, der dies beobachtet. Aber das Land ist nach wie vor stark gespalten. Es gibt einige Leute, die sich meiner Meinung nach mit der Realität sehr schwer tun. Das macht die Dinge schwierig, weil man mit ihnen nicht über die Realität reden kann. Sie lehnen die Fakten und die Wissenschaft ab. Die Gallup Organization, eines unserer ältesten Meinungsforschungsinstitute, führt seit Jahrzehnten eine Umfrage durch, die auch eine Frage zum Fundamentalismus enthält: "Glauben Sie an die Darwinsche Evolution? Glauben Sie an eine von Gott gesteuerte Evolution? Glauben Sie, dass die Erde, so wie sie heute ist, innerhalb der letzten 10.000 Jahre vollständig von Gott erschaffen wurde?" In den 40 Jahren, in denen diese Frage gestellt wurde, haben jeweils etwa 40 Prozent der Amerikaner die kreationistische Antwort gewählt.

Was bedeutet das?

Es handelt sich nicht um die Mehrheit der Amerikaner, aber es bedeutet, dass es viele Menschen gibt, die mehr an ihre Gefühle als an die Realität glauben. Ich kritisiere nicht den Glauben an einen Gott, aber zu glauben, dass die Erde 10.000 Jahre alt ist, lässt sich nur sehr schwer mit wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang bringen. Nur was passiert, wenn Menschen, die ihre Emotionen über die Realität stellen, eine politische Stimme bekommen? Die Umfrage reicht vierzig Jahre zurück, aber hätte man die Frage vor sechzig Jahren gestellt, wäre die Zahl wahrscheinlich ähnlich. Es hat also immer eine Basis von Menschen gegeben, die das, was sie sich wünschen, über die nachweisbare Realität stellen. Und was in den letzten zehn Jahren passiert ist, ist, dass sie die Kontrolle über eine politische Partei erlangt haben. Statt eines Mitte-Rechts- und eines Mitte-Links-Blocks, die gemeinsam ein System ausarbeiten, das das Land voranbringen würde, gibt es also eine Gruppierung, die in der Realität verwurzelt ist und eine, die dies nicht ist. Ein Wettbewerb zwischen zwei vernunftgesteuerten Parteien, die lediglich unterschiedliche Ansichten haben, wäre eine gesündere Sache. Der Klimawandel ist auf längere Sicht jedoch das sehr viel beunruhigendere Problem.

Bildet "Topographies" den Klimawandel ab?

Ich kann nicht behaupten, dass man davon auf meinen Bildern etwas sieht. Vielleicht auf einem der Fotos, auf dem man die Überreste eines Flächenbrands erkennt, deren Häufigkeit zunimmt. Man versucht inzwischen, etwas gegen den Klimawandel zu tun, aber ich erinnere mich daran, wie die Leute schon Anfang der 70er-Jahre über den Treibhauseffekt sprachen. Die Linke forderte damals eine staatliche Regulierung, während die Rechte meinte, man sollte alles den Regeln des freien Marktes überlassen. Aber niemand leugnete die Realität des Klimawandels. Das ist inzwischen 50 Jahre her, und es ist erstaunlich, wie wenig seitdem unternommen wurde.

Fühlen Sie sich nach wie vor als der Entdeckungsreisende, als der Sie Anfang der 70er zu dem Roadtrip aufbrachen, aus dem die Fotografien Ihres Buchs "American Surfaces" hervorgegangen sind?

Damals hatte ich mir bei Abercrombie & Fitch, bei dem es sich noch nicht um das trendige Bekleidungsgeschäft für die Mittelklasse handelte, ein Safari-Outfit gekauft. Ich wollte mich wie ein Entdecker kleiden. In einem anderen Jahr kaufte ich mir den Overall eines Piloten. Ich nehme an, es ging mir um etwas Ähnliches wie einem Schauspieler, der verschiedene Hüte ausprobiert und versucht, durch seine Kostümierung eine bestimmte psychologische Veränderung herbeizuführen. Ich wollte das Gefühl stimulieren, an Orte vorzudringen, die mir unbekannt waren und diese mit neuen Augen zu sehen. Inzwischen bin ich 75 Jahre alt, und es ist nicht so leicht, die Welt auf diese Weise zu betrachten. Die Drohne ermöglicht mir diesen frischen, unvoreingenommenen Blick, und vermutlich reizt mich diese Arbeit genau deshalb. Wenn ich die Drohne steigen und eine Meile weit fliegen lasse, habe ich keine Ahnung, was sie mir zeigt. Ich mache also permanent neue Entdeckungen. In "Topographies" gibt es zwei Fotos, auf denen man Häuser sieht, deren Hinterhöfe voller Schrott sind. Weil sich zur Straße hin ein Zaun befindet, hätte ich dies vom Boden aus niemals sehen können.

Menschen sind auf den Fotos allenfalls ameisengroß, auch Sie selbst kann ich auf keinem der Bilder erkennen. Wo verorten Sie sich innerhalb des Koordinatensystems von "Topographies"?

Ich schreibe ein wenig und sehe einmal pro Woche meine Studenten am Bard College, wo ich seit 1982 unterrichte. Und ich bin gerade von einer sehr produktiven Reise zurückgekommen, auf der ich viele wunderbare Bilder von einer Wünstenlandschaft gemacht habe. Ich setze also einfach meine Arbeit und mein Leben fort. Im Frühjahr feiern meine Frau und ich den 43. Hochzeitstag, und obwohl unsere Umgebung nicht so schön ist wie die Natur, haben wir einen schönen Garten – gewissermaßen die Natur auf Steroiden. Ich liebe meinen Job, ich liebe meine Frau und meinen Sohn. Das Leben meint es also gut mit mir.