Berlinale-Nachlese

Kaltes Gold, geliebter Schiller

Anders als sonst wehte Frühlingsluft am Potsdamer Platz. Der Chor der Huster war im Berlinale-Palast entsprechend dünn besetzt, aber auf der Leinwand herrschte die Gegentendenz: Globale Erkaltung, knirschendes und krachendes Eis, eine halbtote Charlotte Gainsbourg, auf die Schnee herabrieselt („Nymphomaniac“), ein Schneepflugfahrer in Norwegen, der die Mörder seines Sohnes kaltmacht („Kraftidioten“).

Die Berlinale als Außenstelle der Winterspiele? Kann man so sehen, nur funktioniert das Festival nicht nach dem Schneller-Höher-Weiter-Prinzip. Wer gewonnen hat, erfährt das erst am Schluss. Und den Grund für bestimmte Preise können sich am Ende oft nicht einmal die Kritiker zusammenreimen. Wie immer legte die Jury eigene Messlatten an.

Aber es passt schon. Der Eisbär – pardon – Goldene Bär geht an den chinesischen Beitrag „Black Coal, Thin Ice“. Viele überraschte das. Doch im dritten Spielfilm des Regisseurs Diao Yinan bündeln sich Spezifika des diesjährigen Spielfilmmarathons. Mit einem Sieger ohne deutliches politisches Profil war ohnehin kaum zu rechnen. Kein Wunder also, dass reines Genrekino zwar auf der Wettbewerbsschiene mitfuhr, aber bei den Preisen leer ausging: Neben der zynischen Rachetragikomödie „Kraftidioten“ folgte noch der chinesische Beitrag „No Man’s Land“ den Spuren der Coen-Brüder. Besonders Ning Haos Actionreißer war makellos inszeniert, blieb aber an der Oberfläche der Genre-Konventionen.

Das Kino aus der Volksrepublik war – auch in den Nebenreihen – stark vertreten. Der insgesamt nur mittelprächtige „Blind Massage“ überzeugte mit durchweg blinden Darsteller und der Sehbehinderung fühlbar machenden Kameraarbeit Zeng Jians. Der Silberne Bär für den Kameramann ist also gerechtfertigt. Doch „Black Coal, Thin Ice“ war tatsächlich der stärkste chinesische Film. Er spielt im verschneiten Norden Chinas, fast nur an öffentlichen Orten. Private Rückzugsräume sind kaum zu sehen. In Kohlekraftwerken werden Leichenteile gefunden. Nichts Neues für den Ex-Polizisten Zhang, der fünf Jahre zuvor bereits mit einer ähnlichen – in Wahrheit derselben – Mordserie betraut war. Der erste Aufklärungsversuch kostete zwei Fahnder das Leben – und Zhang einst den Job. Nun verbeißt er sich als Privatmann in den Fall und verliebt sich in die junge Witwe eines früheren Opfers, die allerdings selbst zum Kreis der Verdächtigen zählt. Der Serienkiller – eine Frau? Oder ist es der Unbekannte, der stets ein Paar alter Lederschlittschuhe um die Schulter trägt?

In kräftigen Farben, vor allem Rot und Grün, wird eine Welt gezeigt, in der ein Menschenleben kaum ein paar lumpige Yen wert ist. Groteske Morde – mit Schlittschuhen – eine Sexszene im Riesenrad, ein Feuerwerk am hellen Tag, sorgen dafür, dass die Tristesse nicht ermüdend wirkt. Die schlaflose Detektiv-Figur spielt Liao Fan als hinreißenden Unsympathen, was der Produktion noch einen Silbernen Bären für den Hauptdarsteller bescherte. Die zweite Schauspieler-Trophäe, für die Nebendarstellerin (!) Haru Kuroki in der langatmigen Liebesromanze „The Little House“, ist als Auszeichnung für den japanischen Altmeister Yoji Yamada zu werten. Ähnlich kompliziert liegt der Fall beim Alfred-Bauer-Preis „für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet“. Das tat der heute 91- jährige Alain Resnais mit Filmen wie „Hiroshima, mon Amour“ (1959), aber sicher nicht mit der Wettbewerbskomödie „Aimer, boire et chanter“ nach Alan Ayckbourn.

Wenn schon Komödie, dann doch lieber verschwenderisch ausgestattete Groteske, wird sich die Jury gedacht haben. Und sie versilberte Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“ mit dem zweitwichtigsten Bären, dem Großen Preis der Jury. Andersons US-Kollegen Richard Linklater blieb also nur der Trostpreis, der Silberne Bär für die Beste Regie. Dabei hatte „Boyhood“ (zu deutsch: Jungen-Kindheit) das Zeug zum Sieger. Der Film setzt Maßstäbe. Statt die Kinder-Darsteller dieser mehr als ein Jahrzehnt im zeitgenössischen Texas umspannenden Familienstory altersstufengerecht mehrfach zu besetzen, verteilte Linklater seine lächerlich knappen 39 Drehtage auf unglaubliche 12 Produktionsjahre. „Boyhood“ dokumentiert also das wirkliche Heranwachsen des kleinen, am Ende volljährigen Mason und strickt drumherum ein pralles Alltagsepos ohne Schicksalsschläge, aber mit kräftigem Puls.

Die Deutschen hatten mit ganzen vier Wettbewerbsfilmen das Nachsehen. Bedauerlich vor allem für Dominik Graf, dessen von Friedrich Schiller „Geliebte Schwestern“ die kinematografische Polarnacht ähnlich wie „Boyhood“ sommerlich aufhellten. Warum gab es keinen Preis für Graf? Nächste Frage! War ein deutscher Historienfilm je so beiläufig erzählt, unkonventionell und anrührend wie dieser? Da können die ordentlichen, aber eher reißbretthaften Plots von „Jack“ (minderjährige Streuner in Berlin) und „Zwischen Welten“ (Bundeswehrsoldaten in Afghanistan) nicht mithalten. Zum Triumph wurde die Berlinale immerhin für Dietrich Brüggemann und seinen rigide konstruierten „Kreuzweg“ der 14-jährigen Maria, die den erzkatholischen Lehren der Pius-Brüderschaft folgt. Drehbuchschreiben ist das Schwerste“, kommentierte der Berliner Filmemacher seinen Silbernen Drehbuch-Bären, „der Preis wird mir beim nächsten Script wie ein Mühlstein um den Hals hängen“. Und freute sich doch wie ein Schneekönig.