Kommentar

Keiner, der in alle Richtungen ausgreift

2002 war es, der niederländische Populist Pim Fortuyn war gerade ermordet worden, und in der Süddeutschen Zeitung äußerte sich in bemerkenswert kluger, aber auch konfrontativer Weise der junge Museumsdirektor des Boijmans van Beuningen in Rotterdam über die verqueren Verhältnisse in Holland: der Belgier Chris Dercon. Und vielleicht wurde man damals in München auf ihn aufmerksam; kurz danach jedenfalls beerbte Dercon den Blockbuster-Konstrukteur Christoph Vitali am Münchner Haus der Kunst.

Und wie er ihn beerbte: Dercon gelang das Kunststück, sich in die Herzen der nicht eben neuerungssüchtigen Münchner zu kuratieren – und dennoch keine Kompromisse zu machen, was Schauen über Allan Kaprow, Paul McCarthy, mit Christoph Schlingensief oder etwa Hanne Darboven belegen. Dercon machte mal auf Avantgarde, mal auf lustvoll-verspielt, langweilig war das nie. Zuletzt gelang es ihm, mit der Daled Collection viele bedeutende Konzeptualisten der 60er- und 70er-Jahre gleichzeitig ans Haus der Kunst zu holen; man konnte so mit Lawrence Weiner und Daniel Buren am Vernissageabend plaudern.

Doch Dercon, der begnadete Netzwerker, der das steinerne Troost-Haus am Englischen Garten als Knotenpunkt der internationalen Kulturszene zu etablieren verstand, wechselt nun an die Tate Modern, für ihn ein verständlicher Schritt – und für München zunächst ein Schreckensszenario. Doch nun kann man sich erst einmal beruhigt zurücklehnen. Am heutigen Mittwoch kam heraus, wer Dercon nachfolgt: der 1963 in Nigeria geborene Okwui Enwezor.

Eine bemerkenswerte Entscheidung des bayerischen Kunstministeriums. Denn irgendwie ist der kenntnisreiche, weltgewandte Enwezor, einer der ersten Namen in der Szene, in vielem das genaue Gegenteil von Dercon: eher elegant-scheu als draufgängerisch, eher den gepflegten Diskursverästelungen zugetan als dem oral networking. Und er ist keiner, der in alle Richtungen ausgreift – stattdessen hat er sich in der Vergangenheit besonders dadurch hervorgetan, die westliche Kunst-Perspektive Richtung Süden und Osten zu erweitern. Vor allem mit seiner Documenta 11, 2002, schaffte es Afrika endgültig auf die Kunstlandkarte.

Freilich war die Kasseler Weltkunstschau damals, den frischen Positionen zum Trotz, ziemlich museal auf White Cube getrimmt. Dercon hat den Münchner Bau völlig entkernt, hat die Herkunft aus den 30er-Jahren wieder sichtbar gemacht. Man darf gespannt sein, wie Enwezor mit der – dringend sanierungsbedürftigen – Architektur des Hauses umgeht. Und ob seinen Ausstellungen – wie seinerzeit vor der Documenta – jeweils größere Diskurs-Events vorausgehen.

Enwezor ist ein Kurator, der weltweit unterwegs ist und andauernde Engagements hat. Klar, auch Dercon war viel unterwegs, das gehört zur Jobbeschreibung dazu. Das Kunstministerium wird bei seiner Entscheidung sicher auch dies bedacht haben. Enwezor hat in und um München standorttechnisch ja auch schon so einiges geleistet: Vor zehn Jahren zeigte er an der Villa Stuck „The Short Century“, sozusagen ein Präludium für die Documenta. Und gerade läuft in der Privatsammlung Walther bei Ulm eine von ihm kuratierte Fotoausstellung. Beides hervorragende Schauen – München kann sich also freuen. Aber ein wenig umgewöhnen wird man sich schon müssen. Dercon eroberte die Münchner im Sturm. Enwezor werden sie ein Stück entgegengehen müssen.