Neuer Materialismus und Corona

"Körper sind poröse Wirte des Lebens"

Nichtmenschliche Kräfte üben reale Macht aus - das wird deutlich, wenn ein Virus die ganze Welt lahmlegt. Nun lohnt sich ein Blick auf Künstler, die in der Gemeinschaft aller Spezies die Zukunft sehen

Omega-3-Fettsäuren verändern unsere Stimmungen. Müll, den wir längst für entsorgt hielten, ist als Mikroplastik mittlerweile überall. Und unsichtbare Staubmilben, die allergische Reaktionen auslösen, könnten als Lobbyisten der Taschentuchindustrie bezeichnet werden. Nichtmenschliche Kräfte, und seien sie noch so klein, zirkulieren um und in unserem Körper und üben dabei eine reale Macht aus, die bis in politische und ökonomische Sphären reicht. Materie vibriert, wie die Politikwissenschaftlerin Jane Bennett sagt, und wir Menschen stehen in existenzieller Verbindung mit dieser handlungsfähigen Materie. Es ist ein Fehler, sie als passives Anderes, das wir gänzlich kontrollieren können, zu betrachten.

Mit der Coronakrise gewinnen diese Gedanken des sogenannten Neuen Materialismus, die seit einigen Jahren geisteswissenschaftliche Debatten und vor allem auch künstlerische Arbeiten inspirieren, an Relevanz. Ein Virus vermag unser öffentliches Leben lahmzulegen, mit unabsehbaren Folgen. "Assemblagen aus organischen Spezies und abiotischen Akteuren machen Geschichte," schreibt die Wissenschafthistorikerin Donna Haraway. Das erleben wir jetzt unmittelbar.

Das Unsichtbare ist über uns gekommen

Bereits 2014 präsentierte die Ausstellung "Speculations on Anonymous Materials" im Fridericianum in Kassel eine neue Generation von Künstlern, die das Verhältnis von Mensch und nichtmenschlicher Materie vor dem Hintergrund rasanter technologischer Entwicklungen neu erforschen. Lohnt sich nun noch einmal ein geschärfter Blick auf Kunst, die die Verschränkung materieller Organismen verhandelt?

Das Künstlerduo Pakui Hardware postete letzte Woche auf ihrem Instagramaccount: "The Invisible Has come for you With all of its Materiality" (Das Unsichtbare ist mit seiner ganzen Materialität über dich gekommen). Als Foto ist eine Assemblage aus Materialfetzten zu sehen, nur vage lassen sich Tierhäute erkennen. Der Post ist Teil von "In Touch", einem Online-Dialog zwischen Künstlern, der von der Galerie Carlier Gebauer initiiert wurde, um auf die derzeitigen sozialen Einschränkungen zu reagieren.

Pakui Hardware arbeiten seit 2014 an Skulpturen und Installationen, die sie selbst als hybride Körper und Organe bezeichnen. Kategorien von Künstlichkeit und Natürlichkeit lösen sich in diesen Gebilden und Materialgefügen auf. In der raumgreifenden Arbeit "Underbelly", die bis Ende Januar im MdbK Leizig zu sehen war, inszenierten die beiden Künstler ein fiktives Laboratorium für die Biosynthese von Organen, das von der Decke hing und den gesamten Raum umspannte. Nur durch vereinzelte Öffnungen und über Leitern konnten die Besucher die sterile Landschaft aus gläsernen Organprothesen von oben einsehen. Wie formen wissenschaftliche Entwicklungen gekoppelt an wirtschaftschaftliche Interessen die physische Realität unserer Körper? Pakui Hardware entwirft mögliche Zukunftsszenarien um diese Frage. Dabei wird eines immer deutlich: Unsere Körper sind keine harten, abgegrenzten Objekte, sondern, wie Pakui Hardware es ausdrücken, "poröse Wirte des Lebens".

Eine Natur nach der Natur 

Wie durchlässig unsere Körper sind, weiß auch Pamela Rosenkranz, die sich in ihrer Arbeit mit der Haut beschäftigt hat, dem Organ, das das Innere des Körpers vom Außen trennt und zugleich verbindet. Die Künstlerin wurde 2015 mit der Installation "Our Product" für den Schweizer Pavillon der Venedig Biennale international bekannt und war auch in der Ausstellung "Speculations on Anonymous Materials" vertreten. Mit ihrem Werk in Venedig inszenierte sie die spekulative Version eines post-humanen Lebens. Diese bestand wesentlich aus einem riesigen Becken mit rosafarbener Flüssigkeit. Ein von menschlichen Produkten eingetrübtes Gewässer, eine Natur nach der Natur? 

Substanzverbindungen mit Namen wie Veel, Zoolin, Necrion, Extesis und Fleent infiltrierten das Wasser, von dem ein Duft nach neugeborenem Baby ausgehen sollte. Die Beschreibungen der biosynthetischen Stoffe, die das Begleitheft liefert, schwanken zwischen naturwissenschaftlichem Fachjargon, esoterischer Literatur und Marketingtexten. Die Szenerie mag eine fiktive Zukunft beschwören, die Durchmischung nichtmenschlicher, menschlicher, synthtetischer und natürlicher Materie ist hingegen real, ebenso wie die Frage, welcher Diskurs darüber bestimmt, was natürlich ist und was nicht.

Mikroskopisch kleines Leben im öffentlichen Raum

Eine Verschränkung von technologischen und biologischen Organismen wird schließlich auch in den Arbeiten von Katja Novitskova sichtbar, die zuletzt für den Preis der Nationalgalerie nominiert war. Im Hamburger Bahnhof war ihre großangelegte Installation "Pattern of Activation" zu sehen. Kabel werden hier zu Darmschnüren, und elektrische Babyschaukeln wiegen Assemblagen aus Baumpilzen, Plastikkrebsen und transparenten Formen mit CTI-Gehirnscans. 2017 bevölkerte Noviskova den City Hall Park in Manhattan mit  Aluminiumplatten, auf denen Bilder von Kolibakterien, Fadenwürmern, Embryo-Zellen und anderen Kreaturen aufgezogen waren. "Earth Potential" hieß diese Serie aus Skulpturen, die mikroskopisch kleines Leben in den öffentlichen Raum exponiert.

Dass wir längst an dieses wissenschaftliche Bildmaterial gewöhnt sind und was das mit unserer Vorstellung von Natur macht, reflektiert die Künstlerin, indem sie öffentlich zugängliches Internetmaterial für ihre flachen Aluminiumaufsteller nutzt. Das Bild einer menschgroßen Zellansammlung zwischen Bäumen und Büschen wirkt dann aber doch befremdlich. Wir sollten uns aber an den Gedanken gewöhnen, dass die Welt nicht allein vom menschlichen Verstand geformt wird, sondern eben auch von Kolibakterien, die unseren Darm bevölkern. Dass die nicht immer im Sinne des Menschen agieren, ist eine Herausforderung.

Das Coronavirus führt die Fragilität der vom Menschen erdachten Ordnung nun noch einmal überdeutlich vor Augen. Und auch in dieser Situation kann eine Herausforderung liegen. Forschung und Gestaltung liegen manchmal nah beisammen. So verkündete Katja Novitskova Ende März ihr Engagement beim Online-Spiel "Fold It", das eine Mischung aus Gaming und Research ist. Die University of Washington ruft mit dem Spiel die Schwarmintelligenz auf und ermuntert dazu, ein Protein als 3-D-Modell zu falten, das das neuartige Coronavirus unschädlich machen kann. Das Virus besteht zum Teil aus Spike-Proteinen, die man vereinfacht gesagt "umpuzzeln" soll. "Ich habe wahrscheinlich nichts außer ein paar Daten beigetragen, aber die Lernkurve war faszinierend", schreibt Katja Novitskova auf Instagram. "Proteinfaltung ist so materiell wie Bildhauerei und ihre digitale Form in 3-D, es ist definitiv eine poetische körperliche Erfahrung."