Kuratorinnen der Berlin-Biennale

"Wir öffnen unsere Notizbücher"

Ein knappes Jahr vor der eigentlichen Eröffnung läuft sich die 11. Berlin-Biennale schon mal im Stadtteil Wedding warm. Ein Treffen mit dem Kuratorinnenteam

Die 11. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst startet im Juni kommenden Jahres – eigentlich. Denn am 6. September lädt das Kuratorinnen-Team bereits zum "Housewarming" ein. Damit ist auch die erste Location der Biennale klar: ein Ort auf dem ExRotaprint-Gelände im Bezirk Wedding. Das Gelände wurde 2007 als Mieterprojekt von Künstlerinnen und Künstlern initiiert und als gemeinnütziges Stadtteilzentrum gesichert statt dem Markt übergeben, ein Modellprojekt gegen Gentrifizierung. Hier hat die 11. Berlin-Biennale einen temporären Raum aufgemacht und zeigt mit "exp. 1: Das Gerippe der Welt"  die erste einer Reihe öffentlicher Präsentationen, die zu der eigentlichen Präsentation im kommenden Jahr hinführen.

Im Vorfeld haben wir María Berríos, Renata Cervetto, Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubio zum Interview getroffen – noch in den Kunst-Werken Berlin in der Auguststraße, wo das Kuratorinnenteam auch weiterhin einen Sitz haben wird. In dem Team kommen verschiedene Generationen und Erfahrungen zusammen: Lisette Lagnado, 1961 in Kinshasa geboren, hat zuletzt in Rio de Janeiro gelebt und dort unter anderem die Biennale von São Paolo 2006 kuratiert und die Escola de Artes Visuais do Parque Lage geleitet.

Gleichzeitig mit ihr hatte Agustín Pérez Rubio, 1972 in Valencia geboren, die Einladung bekommen, sich als Kurator der Berlin-Biennale zu bewerben, damals noch künstlerischer Leiter des Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires (MALBA). Die beiden kamen ins Gespräch, stellten fest, dass sie sich, gemeinsam mit Renata Cervetto und María Berríos, perfekt ergänzten – und bekamen den Zuschlag als vierköpfiges Team. Pérez Rubio hatte bereits mit der 1985 in Buenos Aires geborenen Renata Cervetto am MALBA gearbeitet, die dort die Bildungs-Abteilung koordiniert hat. Und Lagnado involvierte die 1978 in Chile geborene María Berríos, mit der sie bereits in Madrid als Kuratorin zusammengearbeitet hatte und die zuletzt mit ihrer Familie in Kopenhagen lebte.

Frau Lagnado, Frau Berríos, Frau Cervetto, Herr Pérez Rubio, was ist für Sie reizvoll daran, für Berlin eine Biennale zu kuratieren?

Lisette Lagnado: Ich dachte sofort, die Berlin-Biennale wäre die Chance, eine radikale Biennale zu machen. Sie scheint mir so eine junge und frische Plattform zu sein. Bei der Biennale in São Paolo, die ich vorher kuratiert habe, trauern die Leute immer noch der Ausgabe nach, in der Picassos "Guernica" gezeigt wurde. Deswegen dachte ich, es ist schön, dass ich in Berlin ganz auf das Zeitgenössische gehen kann. Aber seitdem ich hier bin, sind mir zwei Dinge klar geworden: Erstens, dass Berlin schon ein extrem reiches Angebot im Zeitgenössischen hat. Viele Sachen, die ich hier hätte zeigen wollen, waren bereits zu sehen, am HAU, bei Savvy Contemporary, bei Festivals oder anderswo. Die Aufgabe ist also, etwas in eine Kunstszene zu bringen, die eigentlich saturiert wirkt. Das zweite war, dass es ein Fehler war, zu denken, dass der historische Kontext nicht wichtig ist. Man kann keine Künstler*innen aus einem anderen Land hierher bringen, ohne den Kontext auch zu zeigen. So ändern sich die Ideen.

Agustín Pérez Rubio: Wir verstehen die Biennale als eine Art Laboratorium, wir suchen nach neuen Wegen, mit zeitgenössischer Kunst umzugehen, zwischen Aktivismus und Theorie, zwischen hergebrachten Praktiken und neuen. Deswegen fanden wir es interessant, ein Projekt gemeinsam zu entwickeln. Wir sind kein Kollektiv, wir sind vier Individuen, aber wir kuratieren das hier als Team.

Maria Berríos: Die Berlin-Biennale hat ein angenehm menschliches Maß. Die Herausforderung ist vielleicht, dass Berlin erschöpft ist von diesen Pop-Up-Initiativen, von den Zwischennutzungen und Projekten. Vor zwanzig Jahren konnte die Berlin-Biennale noch in die freien Räume gehen und sie beleben, heute wäre das ein abstoßendes Spektakel, bei dem man gleich an Immobilienspekulanten denkt. Wie kann eine Biennale darauf reagieren? Auch eine Biennale ist ein Kurzzeitprojekt, das dann wieder weg ist. Wie kann man trotzdem nachhaltige Beziehungen aufbauen?

Und was ist die Strategie?

Renata Cervetto: Das erste ist, dass wir hier auch leben. Es war eine Voraussetzung von Seiten der Biennale, aber auch uns selbst ist das sehr wichtig.

Agustín Pérez Rubio: Der Ortsbezug ist wichtig. Wir möchten etwas machen, das genau hier Sinn ergibt. Natürlich bringen wir unsere Erfahrungen mit, aber die Berliner*innen sind unser wichtigstes Publikum.

María Berríos: Wir wollen uns Zeit nehmen, unsere Erfahrungen zu machen. Als eine Art Gefäß dafür verstehen wir auch den temporären Ort im ExRotaprint. Es ist ein erster Schritt, um die Leute zu treffen, die um uns herum sind. Es gibt die Kunstwelt, aber es leben ja auch noch andere Leute in Berlin. Eine Biennale ist ein schnelles Format, aber wir wollen uns trotzdem Zeit dabei nehmen und Beziehungen aufbauen.

Was genau machen Sie im Wedding?

Renata Cervetto: ExRotaprint ist auch unser Büro. Wir arbeiten halb in den Kunst-Werken Berlin, halb dort. Es ist eine kleine Geste, aber sie soll heißen: Wir sind offen. Wenn man nur in Mitte arbeitet, ist man wie in einer Blase.

Lisette Lagnado: Wir müssen uns selbst einbringen, sonst wird es langweilig, auch für uns. Natürlich ist die Sprache manchmal eine Hürde, aber wir versuchen, das Beste draus zu machen.

María Berríos: Es ist eine Methode, um unsere kuratorische Recherche offener zu gestalten. Der Umgebung eher geschlossener Räume, wie Cafés oder Bars, in denen man sich mit einem kleinen Kreis von Leuten trifft, möchten wir eine Öffnung kuratorischer Prozesse entgegensetzen.

Agustín Pérez Rubio: Der Prozess ist ein wichtiger Teil unseres Vorschlags für die Berlin-Biennale. Wir wollen unsere Ideen damit abgleichen, was wir hier vorfinden. Wir wollen unsere eigene Position herausfordern, anderen zuhören.

Wovon gehen Sie thematisch aus?

Lisette Lagnado: Wir alle haben Themen aus unserer jeweiligen Heimat mitgebracht. Bei mir ist es zum Beispiel der Mord an der schwarzen, lesbischen sozialistischen Stadträtin Marielle Franco aus Rio de Janeiro, die im März 2018 von rechten Milizen erschossen wurde. Der Mord ist bis heute nicht gesühnt. Ich habe Brasilien zu einem Zeitpunkt verlassen, als man sich dort nicht mehr sicher fühlen konnte. Es ist wie ein Bürgerkrieg dort. Ich fühle mich denen, die nicht das Privileg haben, in ein anderes Land zu gehen, verpflichtet. Rassismus, Intoleranz: Brasilien hat die Militärdiktatur von den 60er-Jahren bis in die 80er-Jahre nie aufgearbeitet, die junge Generation lebt dort in einer Blase der Amnesie.

María Berríos: Unser Hintergrund prägt uns natürlich, wir bringen bestimmte Erfahrungen mit. Gleichzeitig wollen wir nicht Südamerika repräsentieren oder so etwas. Es geht um Dinge, denen wir begegnet sind und denen wir Wert zumessen. Die haben wir im Gepäck, automatisch.

Sie sind dabei, Berlin kennen zu lernen. Eine besonders große lateinamerikanische Community gibt es hier nicht, oder?

Maria Berrios: Im Gegenteil, die gibt es! In den 70er- und 80er-Jahren kam eine ganze Welle von politischen Flüchtlingen, die vor den Diktaturen Lateinamerikas flüchteten. Heute kommen neue Exilanten zum Beispiel aus Brasilien, Leute, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden oder wegen der politischen Situation. Natürlich kommen die Leute auch einfach her, um zu studieren, oder als Künstler und Künstlerinnen zu arbeiten.

Agustín Pérez Rubio: Auf einer Veranstaltung haben wir zum Beispiel kürzlich Jean Wyllys getroffen, den ersten offen schwulen Abgeordneten Brasiliens. Er hat so viele Morddrohungen erhalten, dass er ins Exil gegangen ist und mittlerweile in Berlin lebt.

María Berríos: Wir haben natürlich von der Sprache her einen unmittelbaren Zugang zu dieser lateinamerikanischen Community. Aber generell geht es uns darum, denjenigen Stimmen hier zuzuhören, die vielleicht nicht die lautesten sind, die vielleicht zerbrechlicher sind und leiser. Es gibt so viel von dieser Macho-mäßigen Selbstsicherheit in der Kunstwelt, wir wollen versuchen, dahinter zu schauen.

Die Künstler und Künstlerinnen, die Sie zur Biennale einladen werden, geben Sie noch nicht bekannt. Aber vielleicht könnten Sie Beispiele nennen, wer in den letzten Jahren für Sie wichtig war?

Lisette Lagnado: Eine Künstlerin, mit der ich eng zusammengearbeitet habe, ist Rivane Neuenschwander. Bei ihrer jüngsten Ausstellung in der Whitechapel Gallery hat sie das gesamte Budget in die Arbeit mit Kindern gesteckt. Oder Laura Lima, eine Künstlerin, deren Arbeiten sich zwischen "Live-Being" und Skulptur bewegen und Tanz, Oper und Zeichnung mixen. Diese beiden Künstlerinnen haben in mir gezeigt, wie Kunst weniger elitär sein kann, wie man andere Personengruppen mit einbezieht.

Ist Vermittlung wichtig für die Konzeption der Ausstellung?

Renata Cervetto: Vermittlung ist nicht etwas, das einer fertigen Ausstellung angehängt wird, sondern sie ist von Anfang an Teil der künstlerischen Projekte. Wir arbeiten auch mit Künstlern und Künstlerinnen, die die Leute mit einbeziehen. Es geht nicht einfach darum, mehr Publikum zu haben, sondern Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Fähigkeiten und Hintergründe einen Raum zu geben, um sich einzulassen und zu interagieren.

In Berliner Museen ist dieses Verständnis für Vermittlung oft noch ziemlich am Anfang. Was haben Sie da für Erfahrungen gemacht?

Agustín Pérez Rubio: Manchmal finde ich die Atmosphäre in den Museen hier seltsam. So viele Regeln: Kürzlich durfte ich meinen Studierenden vom Institut für Kunst um Kontext an der Universität der Künste Berlin in einer Ausstellung nichts erklären. Ich durfte sie nicht um mich versammeln und mit ihnen sprechen. Ich müsse eine Führung buchen, hieß es.

Renata Cervetto: Es gibt natürlich auch gute Beispiele, wie etwa das Bode-Museum, um nur eines zu nennen, oder freie Initiativen, wie etwa Kotti-Shop, die eng mit den Stadtbewohner*innen arbeiten.

Agustín Pérez Rubio: Es geht um das Verhältnis der Institution zu den Menschen: Was man ihnen zeigt und wie man sie behandelt. Institutionen müssen sich ändern, sie müssen Orte mit einer offenen Tür sein.

Wie verstehen Sie die "exp. 1"  jetzt im ExRotaprint?

Lisette Lagnado: Das ist noch keine richtige Ausstellung. Wir geben eher Einblicke in unsere Recherchen, wir öffnen unsere Notizbücher. Wir wollten auch nicht, dass es institutionell wirkt, mit autoritärer Bewachung, Eintritt und so weiter. Es ist ein Laboratorium, ein Denkraum, von dem aus wir von Künstler*innen und Projekten lernen möchten und nachhaltige Beziehungen zu den Leuten in der Nachbarschaft und zu den anderen Initiativen in und um ExRotaprint aufbauen wollen.

Sie sind jetzt seit einigen Monaten hier. Welche Erfahrungen haben Sie mit der Stadt gemacht?

Lisette Lagnado: Mir gefällt zum Beispiel, wie vielschichtig der Wedding ist, mit all den Communities, die hier leben.

Agustín Pérez Rubio: Großartig finde ich, wie viel hier passiert an kulturellem Angebot. Allerdings verpasst man ständig etwas.

María Berríos: Ich habe den Eindruck, dass man in vielen anderen europäischen Städten ab einem gewissen Alter eher unter sich bleibt und auch abends nicht mehr so viel unterwegs ist. Berlin scheint mir sehr offen zu sein für Leute aller möglichen Altersgruppen und Hintergründe. Andererseits kommen wir als white-passing Kurator*innen für einen Job hierher, die Leute sind nett zu uns. Kürzlich sprach ich mit einem jungen Künstler aus Alexandria an. Dessen Erfahrungen waren anders, für ihn ist es hart.

Renata Cervetto: Es ist eine sehr lebhafte internationale Stadt mit einem überwältigendem kulturellen Angebot.