"Die Maler des Heiligen Herzens"

Der heimliche Motor der Moderne

Man nannte sie naiv, weil ihnen akademische Ausbildung fehlte, trotzdem fanden sie ihren Weg in die Kunstgeschichte: Das Paula-Modersohn-Becker-Museum in Bremen würdigt fünf Autodidakten der Malerei

Wenn Postbeamte, Kirmesringer oder Gärtner um 1900 in ihrer Freizeit zum Pinsel griffen, malten sie meistens die sich verändernde, industrialisierte Welt um sich herum: Fabrikschornsteine, Fußgängerbrücken oder die vielen Varietés. Nicht so Séraphine Louis. Ihre fedrigen Gewächse wuchern in gelben, roten und grünen Lackfarben über die gesamte Bildfläche.

2008 widmete sich der Film "Séraphine" von Martin Provost dem Doppelleben der Autodidaktin. Er räumte gleich sieben französische Filmpreise ab und das, obwohl im Zentrum eine am Ende ihres Lebens dem Wahnsinn verfallene Putzfrau stand. Heute zählt sie in Frankreich zu den wichtigsten Vertreterinnen der sogenannten "Naiven Kunst", gleich nach Henri Rousseau, den der Dichter Guillaume Apollinaire liebevoll als "Zöllner" titulierte - und den später Pablo Picasso, Fernand Léger, Franz Marc oder Max Ernst als Inspirationsquelle nannten.                                                       

Was diese Avantgardisten an der Malerei des Dilettanten begeisterte (darunter tradierte Gattungen wie Stadtansichten, Porträts, aber auch traumhaft wirkende Naturszenen)? Es war nicht die Respektlosigkeit gegenüber der Perspektive, sondern die sorglos "primitive" Darstellung der Dinge, im Verbund mit einer virtuosen Malweise, die sie als eine neue Art der Wahrhaftigkeit empfanden.

Das unerwartete Hobby der Haushälterin

Das tat auch der damals in Paris lebende deutsche Kritiker und Kunsthändler Wilhelm Uhde. Der homosexuelle Mann, der nicht umhinkam, sich selbst als Außenseiter zu empfinden, kannte und schätzte Picasso ebenso wie Rousseau und lehnte den Begriff "naiv" als ästhetische Kategorie ab. Als er nach Senlis umzog, stellte er 1912 die tiefgläubige Séraphine Louis als Haushälterin ein und entdeckte unerwartet ihr Hobby. 

Sie malte kniend, wie im Rausch, auch schon mal mit Schweineblut und Kerzenöl. Statt die auf der sozialen Leiter ganz unten stehende Bedienstete auszulachen, wie es gewöhnlich ihre "Herrschaften" taten, ermunterte er sie weiterzumachen und kaufte ihr ihre psychedelisch angehauchten Bilder ab. Dann kam der Erste Weltkrieg und Uhde musste das Land verlassen.

In der Nachkriegszeit setzte er seine Förderung fort, bis zum Börsencrash von 1929. Ein Jahr zuvor beteiligte er Séraphine Louis noch zusammen mit den "Modern Primitives" an der Ausstellung "Les Peintres du Coeur" in der Galerie des Quatre-Chemins in Paris. Danach stürzte sie mangels Einnahmen mental ab, eine Rückkehr zu ihrer früheren Arbeit war ihr unerträglich. Sie wurde psychotisch und landete in einer Anstalt. Heute werden einige ihrer größten Leinwände auf mehrere hunderttausend Euro geschätzt.

Wissbegierige Zeitgenossen der Moderne

Im Museum Frieder Burda in Baden-Baden verortete Kurator Udo Kittelmann in diesem Sommer Séraphine Louis und Henri Rousseau in nächster Nachbarschaft, auch wenn die Universen der beiden nicht konträrer sein könnten. Und die so monumentalen wie nach Van-Gogh-Art gequälten Blumensträuße den temperierten Dschungeln definitiv die Show stehlen. Nun zieht die Ausstellung nach Bremen weiter und ist bis März 2023 im Paula-Modersohn-Becker-Museum zu sehen. Entwaffnend eigensinnig ist darin auch der Auftritt der weniger bekannten André Bauchant, Louis Vivin und Camille Bombois. Rätselhafte, in der Machart an Piero della Francesca erinnernde antike Mythologien bei Bauchant, die kein Geringer als Le Corbusier 1921 zu sammeln begann. Detailversessene Umrisse Pariser Architekturen bei Vivin und farblich prächtige, humorvolle Akte und Zirkusszenen bei Bombois, in denen der Zeitgeist der "Roaring Twenties" fortlebt.

Selbst in den Fußnoten erweist sich der unorthodoxe Werdegang der letztgenannten Jahrmarkt-Hilfskraft als ungewöhnlich: 1937 wurde in dem Städtischen Kunsthaus Kassel sein Tafelbild "Die Angler" als "entartete Kunst" beschlagnahmt und gelangte an den Kunsthändler Hildebrand Gurlitt. Und: Bombois gehörte zu den Teilnehmern der ersten Documenta. Womit der lang gepflegte Mythos, die "naiv-primitiven" Maler und Malerinnen hätten stets fern des Kunstbetriebs gearbeitet, widerlegt wäre.

Rousseau verhandelte den eigenen Stellenwert mit Picasso, der sich frühzeitig ein Werk sicherte, auf Augenhöhe. Nicht wenige holten das fehlende Wissen um die Gesetze der Kanon-Bildung in Eigenregie nach, sie waren wissbegierige Zeitgenossen der Moderne und nicht zuletzt auch in ihrer die Realität verfremdenden Sicht ihr geheimer Motor.