Kuratorin Victoria Noorthoorn über die kommende Lyon-Biennale

Mehr Lügen in der Kunst!

Frau Noorthoorn, für die Lyon-Biennale haben Sie eine Streitschrift geschrieben, in der Sie sich zu einem berühmten Epigramm von Oscar Wilde bekennen: „Ich plädiere dafür, in der Kunst zu lügen“ – was wollen Sie damit sagen?
Mich interessiert an Wildes Literatur, dass er Kunst als etwas völlig Unabhängiges von der Realität beschreibt. Kunst kann die Realität bereichern, aber sie braucht Abstand von der Wirklichkeit, um als solche zu bestehen und die Komplexität der Wirklichkeit beschreiben zu können.

Ihre Streitschrift besteht aus 19 Punkten. Wie kamen sie überhaupt darauf?
Ich glaube, dass wir in der zeitgenössischen Kunstwelt an einem Punkt angekommen sind, an dem die Art, wie wir über Kunst reden oder schreiben, immer formaler wird. Formulierung, Struktur und Argumentation sind sehr homogen. Es gibt feste Regeln. Heute ist es schwierig über Kunst zu sprechen, ohne ihr einen Diskurs aufzuzwingen. Ich glaube, dass wir die Kunst nicht atmen lassen. Anstelle eines Ausstellungstextes habe ich also ein Pamphlet verfasst. Ich wollte die Werke wieder für sich selbst sprechen lassen.

Braucht Kunst keine Erklärung?
Manche Arbeiten erklären sich von selbst, gelegentlich braucht der Betrachter zusätzliche Informationen. Generell sollten Texte das Werk bereichern. Doch oft blockieren sich Text und Kunst gegenseitig. Häufig liest man etwas über das Werk, bevor man es überhaupt gesehen hat, weil man denkt, dass Kunst erklärt werden muss. Dabei existiert Kunst per Definition unabhängig von Wort und Schrift. Mit dem Pamphlet versuche ich die Besucher dazu zu bewegen, Wörter und Bilder getrennt voneinander wahrzunehmen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich mehr auf den Akt des Betrachtens zu konzentrieren.

Der Titel der Biennale „A Terribe Beauty is Born“ bezieht sich auf ein Gedicht des irischen Dichters William Butler Yeats.
Mit diesem Gedicht hat Yeats ein wichtiges historisches Ereignis analysiert. Es handelt von der Osterrevolution in Dublin 1916, bei der hunderte Iren für die Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft kämpften. Zunächst wusste Yeats nicht, wie er dieses Ereignis beurteilen sollte. Werden die Freiheitskämpfer als Helden in die irische Geschichte eingehen oder sind sie Opfer, die an diesem Tag sinnlos ihr Leben verloren? Sein Gedicht ist eine literarische Analyse eines Ereignisses, das die Gegensätze von Horror und Tragik, Freude und Hoffnung vereint. Es befasst sich also mit der Frage nach Gegenwart und Realität, um die es auch in dieser Ausstellung gehen soll. Die Biennale stellt sich der großen Aufgabe, Antworten auf unsere Gegenwart zu finden.

Und, haben Sie welche gefunden?
Das wird sich zeigen. Ich habe Künstler gebeten, die Gegenwart aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Sie sollten radikal arbeiten und provokativ sein. Im Idealfall wird sich die Biennale, ähnlich wie die Osteraufstände für Yeats, nicht einfach in Worte fassen oder kategorisieren lassen. Ich wünsche mir, dass die Biennale unbequem ist und ihre Besucher aufwühlt.

In ihrer Streitschrift steht „der Künstler ist vor allem ein politisches Subjekt, und Kunst ist Politik“, wird diese Biennale sehr politisch?
Nein, diese Biennale hat nichts mit Politik zu tun. Ich bin nicht daran interessiert, eine politische Ausstellung zu machen, weil ich das für völlig überflüssig und redundant halte. Gute Kunst ist kraftvoll, und jeder starke, talentierte Künstler hat ein politisches Thema. Das heißt aber nicht, dass er sich konkret auf dieses Thema beziehen muss, um beispielsweise über die Emanzipation der Freiheit zu sprechen. In der Kunst bedient man sich der Metaphern und des Humors, um sich kritisch zu äußern. Seinen Standpunkt kann ein Künstler dann ebenso gut in einer abstrakten Arbeit deutlich machen.

Sie haben die diesjährige Lyon Biennale von Buenos Aires aus kuratiert. Glauben Sie, dass Sie durch die große Distanz eine europäische Biennale aus südamerikanischer Perspektive konzipiert haben?
Sicher nehme ich eine ferne Sicht auf Europa ein. Aber ich hoffe, dass genau diese neue Perspektive die Biennale bereichern wird. Zu Beginn des Projekts bin ich viel durch Europa gereist. Ich habe versucht, das europäische Publikum zu verstehen: Was bewegt die Menschen? Was steht in den Zeitungen? Was sind ihre Sorgen und Ängste? Mir war es sehr wichtig, die Atmosphäre in Europa aufzunehmen, um zu verstehen, welche Töne man hier ansprechen konnte. Oft war es nicht einfach, da die europäischen Städte alle sehr unterschiedlich sind.

Für die Biennale haben Sie mit Künstlern zusammengearbeitet, die Sie noch nicht kannten, weil Sie keine Ausstellung machen wollten, die sie sich schon Kopf fertig konzipiert haben.
Genau. Auf diese Weise versuche ich jetzt schon seit mehreren Jahren zu arbeiten. Es gibt einen Kurator, den ich sehr schätze und bewundere. Sein Name ist Robert Storr. Als ich noch sehr jung war, fragte ich ihn, wie er die Themen für seine Ausstellungen aussucht und er antwortete, dass er immer versuche, mit Materialien zu arbeiten, die er nicht verstehe. Seither habe ich mir vorgenommen mit Künstlern zu arbeiten, die ich zu Beginn nicht besonders gut kenne. Ich versuche so eine Situation herzustellen, von der ich weiß, dass sie mich überfordern wird. So kann man das Meiste aus sich herausholen. Ob mir das gelungen ist, wird sich zeigen.

11. Lyon-Biennale, 15. September bis 31 Dezember 2011