Fotografin besucht Models in ihren Wohnungen

"Ich hatte nicht mit einer so großen Verletzlichkeit gerechnet"

Seit 2008 fotografiert die amerikanische Modefotografin Hadley Hudson Models in ihren Wohnungen und gibt so einen Blick hinter die glamouröse Fassade der Modewelt. Ein Interview

Frau Hudson, wie war es, die Models in ihren Wohnungen und persönlichem Umfeld zu besuchen?
Jedes Shooting war für sich ein Abenteuer. Ein paar der interessantesten Aufnahmen machte ich in Model-Appartements im tiefsten Brooklyn und Queens. Das waren die vielleicht unglamourösesten Lebensbedingungen, die man sich vorstellen kann: baufällige, heruntergekommene Appartements, in denen 20 Leute lebten. Manchmal waren sechs oder acht Stockbetten in einem Raum. Ich bat jedes Model, mir seine Ecke der Wohnung zu zeigen, die normalerweise aus einem Koffer und ein paar Erinnerungen an zu Hause bestanden, Kuscheltiere oder Sport-Shirts. Ich fand es auch total toll Models zu shooten, die noch bei ihren Eltern wohnen. Einer meiner Lieblinge ist Adrien aus Paris. Er lebte mit seiner Mutter im Banlieue zu der Zeit. Ihr Appartement war hyper-feminin, überall Chintz, Blumen und Möbel im Fake-Louis-Vuitton-Stil. Wir gingen in sein Zimmer, und ich war sehr überrascht darüber, wie dieser Raum seine jung-maskuline Identität widerspiegelte: ein James Dean "Rebel without a Cause"-Poster hing an der Wand, ebenso Fotos von The Clash und Sex Pistols. Ich fand das sehr berührend.  

Wie haben sich die Models selbst inszeniert?
Keines der Bilder war gestellt. Ich bat die Models immer darum, ihren Raum exakt so zu lassen, wie er ist und ihr Lieblingsoutfit anzuziehen. Für ein paar von ihnen hieß das, sich fast komplett auszuziehen, für andere hieß es, sich in Unterwäsche vor die Kamera zu stellen. Aber die meisten waren glücklich damit, sich nicht aufwendig kleiden zu müssen und einfach nur ihr Lieblings-T-Shirt anzuziehen.

Gab es auch witzige Situationen?
Absolut! In einem Model-Appartement wurde ich in den "weed room" ("Marihuana Raum") eingeladen. Es war ein winziger Raum, in den sich alle Bewohner hineingequetscht hatten, die Tür wurde verschlossen und eine riesige Bong herumgereicht. Einmal wartete ich vor der Wohnung eines Models darauf, dass man mir aufmachte. Sie hatte gerade einen heftigen Streit mit ihrem Freund und sie schrien sich so laut an, dass ich durch die Tür hindurch alles hören konnte. Später weigerte sich ihr Freund zu gehen und versuchte sich während des Shootings in jedes Bild zu drängen. Später retuschierte ich ihn dann aus den Fotos.

War es schwierig, die Models für dieses Projekt zu gewinnen oder ließen sie Sie direkt hereinkommen?
Es war sehr leicht Models für das Projekt zu finden. Mit vielen hatte ich schon vorher zusammengearbeitet, andere habe ich über Model-Agenturen kennengelernt.

Gibt es bestimmte Charakteristika, die bei allen gleich sind, sodass man sagen könnte "Models sind im Privatleben …?"
Diese Arbeit war dazu da, Projektionen zu zerlegen. Es ist leicht, Vermutungen und Annahmen aufzustellen über junge hübsche Menschen, die nichts zu tun haben mit den Fragen, wer sie sind und in was für einer Welt sie leben. Viele von ihnen sind sehr jung, ringen mit sich selbst, sind teilweise weit weg von zu Hause und versuchen, in einer halsabschneiderischen oberflächlichen Industrie zu arbeiten. Ich hatte Erwartungen an das Projekt, auf jeden Fall. Aber ich hatte nicht mit einer so großen Verletzlichkeit gerechnet. Viele von ihnen stecken noch mit einem Fuß in der Kindheit. Ironischerweise sind diese jungen Gesichter "Marken-Botschafter" eines sehr teuren "Erwachsenen"-Lifestyles, den nur wenige von ihnen jemals erreichen werden.

Inspiriert waren Sie von dem C.G. Jung, wie der Titel Ihres Buches "Persona" verrät. Inwiefen hat Sie der Schweizer Psychiater beeinflusst?
Seit 2010 habe ich am C.G. Jung Institut studiert. Die Psychoanalyse Jungs zu lernen, veränderte die Art, wie ich fotografiere. Für mich sind Fotografie und Psychoanalyse sehr ähnlich. Sie nähern sich beide dem "Menschensehen" an. Meine Intention ist es, beides zu vereinen, in dem ich meine ganz eigene Bildsprache kreiere. Der Titel des Buches "Persona" nimmt Bezug auf das Jungsche Konzept der "Maske" oder der Erscheinung, wie man sich nach außen hin der Welt präsentiert. Dinge beginnen interessant zu werden, wenn man hinter die Persona blicken kann. Da kann Chaos und Unvorhersehbares sein, aber vor allem Menschliches. Oder um Leonard Cohen zu zitieren: "Da ist ein Riss, ein Riss in allem. So kommt das Licht hinein."