Kriegsgedenken in München

"Ich fühle mich mitverantwortlich"

München erinnert mit einem Meer von riesigen Mohnblumen auf dem Königsplatz an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Sebastian Späth hat den Künstler Walter Kuhn für Monopol beim Aufbau gesprochen

Aus der Nähe sehen die Kunstblumen wie umgedrehte Regenschirme aus. Ihre volle Wirkung entfalten sie erst, wenn man von einem erhöhten Aussichtspunkt aus auf das sich langsam ausbreitende Meer aus Blumen blickt, etwa von einem Doppeldecker-Bus. Kaum stehen die ersten künstlichen Mohnblumen, hält ein solcher "Hop-On, Hop-Off"-Bus für Stadtrundfahrten am Königsplatz. 

Die aussteigenden Touristen wissen gar nicht, worauf sie ihrer Aufmerksamkeit zuerst richten sollen. Auf die Tempel, also das Ensemble aus Staatlicher Antikensammlung, Propyläen und Glyptothek oder auf die Blumen. Die meisten entscheiden sich für das Blumenmeer als Hintergrund für ihr Selfie. Im Zentrum dieses Geschehens steht ein grauhaariger, bärtiger Mann mit Baskenmütze: Der 72-jährige Künstler Walter Kuhn freut sich über die staunenden Leute und delegiert die zahlreichen Unterstützer seines Projekts, die mit Bohrer und Hammer die ungefähr hüfthohen, künstlichen Mohnblumen in die Grünfläche setzen.

Herr Kuhn, wie laufen die Vorbereitungen?
Gut eigentlich, abgesehen von einer Sache, die im Vorfeld nicht abzusehen war. Es haben sich viel zu viele freiwillige Helfer gemeldet, für die gar nicht genug Arbeit da ist. Daneben gibt es 400 Spender, die eine Patenschaft für die Blumen übernommen haben. Die Mohnblumen gehen in ihren Besitz über, wenn die Installation im Dezember wieder abgebaut wird. 

Gab es im Vorfeld auch Widerstand gegen Ihr Projekt?
Ich habe bisher nur eine einzige negative Zuschrift bekommen, von jemandem, der sich in der Kriegsgräberfürsorge engagiert. Die Person findet das Vorhaben widerlich und wirft mir Geschäftemacherei vor. Außerdem hat sie mir eine Serie von Fotos geschickt, die zeigen, wie im englischsprachigen Raum, mit Mohnblumen und anderem Andenkenkitsch Geld gescheffelt wird.

Trifft Sie das? 
Das ist ja überhaupt nicht meine Absicht. Alles, was von den Spenden am Ende übrig bleibt, gehen an ein Geflüchtetenhilfswerk. Und es gibt auch nur eine sogenannte Defizitzuschuss-Zusage von der Stadt München. Das heißt, wenn die Spenden viel höher ausfallen, als die Ausgaben, mit denen wir gerechnet haben, dann bekommen wir automatisch weniger finanzielle Unterstützung von der Stadt. Deswegen spende ich auf jeden Fall mein gesamtes Honorar, das in die Gesamtkosten in Höhe von 80.000 Euro eingerechnet ist. Trotzdem nehme ich die Kritik ernst und habe die Person eingeladen, dass ich ihr gerne mal bei einem Kaffee erkläre, worum es in Wahrheit geht.

Uns verraten Sie es aber bitte jetzt: Wozu rufen sie auf?
Zur Erinnerung an die Schrecken der Kriege, die im letzen Jahrhundert gesehen sind, insbesondere des Ersten Weltkriegs und der Kriege die aktuell stattfinden: in Syrien oder im Jemen. Es ist ein Aufruf, alles dafür zu tun, damit wir in Zukunft in einer friedlicheren Welt leben. 

Warum haben Sie das Gefühl, dass gerade Sie sich künstlerisch mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen müssen? Ist das nicht eine riesige Verantwortung?
Das hat etwas mit persönlicher Geschichte zu tun. Mein Großvater war Soldat im Ersten Weltkrieg. Und mein Vater wurde als 20-Jähriger während des Zweiten Weltkriegs eingezogen. Beide haben die schreckliche Zeit zum Glück überlebt. Ich bin 1946 geboren, im vom Krieg zerstörten Nürnberg aufgewachsen. Seit ich denken kann, ist das Bild der zerbombten Stadt in meinem Kopf. 90 Prozent aller Häuser waren bloß noch Ruinen. Das ist völlig vergleichbar mit den Bildern die man heute von Aleppo, Homs oder Städten im Irak, aus den Nachrichten kennt. Als Kind habe ich in den Trümmern gespielt, obwohl ich das natürlich nicht durfte, weil überall Blindgänger rumlagen. Sogar in den 50ern, als ich bereits zur Schule ging, waren die Folgen des Krieges und die Zerstörung noch immer unübersehbar. Ich habe außerdem ich einen Zweitwohnsitz in Frankreich. Viel mehr als bei uns wird dort die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wachgehalten. In beinahe jedem Dorf gibt es ein Gefallenendenkmal, das an la Grande Guerre, den Ersten Weltkrieg erinnert. Als Deutscher eines dieser Kriegsdenkmäler zu besuchen, löst bei mir immer ein mulmiges Gefühl aus. Irgendwie fühle ich mich mitverantwortlich.

Woher kommt dieses Schuldgefühl?
Man Vater hatte großes Glück. Er war nicht im Schützengraben, sondern bei einer Fernmelde-Einheit. Aber ich bin der Meinung, dass die meisten der Soldaten, die eingezogen wurden, auch die meisten deutschen, einfach manipuliert worden sind. Und: Wer damals den Dienst an der Waffe verweigerte, der riskierte allein dadurch schon sein Leben. 

Treibt Sie die Angst an, dass so etwas wieder passieren könnte? Krieg in Europa?
Unabhängig vom Erstarken der Rechten in ganz Europa macht mir die ständige militärische Aufrüstung Sorgen. Immer weiter aufzurüsten, verhindert keine Kriege. Am Ende erhöht es die Kriegsgefahr. 

Wie sind sie auf die Mohnblume gekommen?
Bei einem Aufenthalt in Ypern in Westflandern vor zehn Jahren. Im Umkreis dieser Stadt sind im Ersten Weltkrieg mehr als eine halbe Millionen Soldaten gefallen, und es gibt dort viele Soldatenfriedhöfe. Auf allen Gräbern der Gefallenen lagen Kränze aus solchen Mohnblumen. Ich wusste bis dahin nicht, dass sie ein Symbol für das Gedenken an gefallene Soldaten sind.

Der Künstler Walter Kuhn

Sie haben die 3000 Blumen aus Stoff und Draht aber nicht alleine hergestellt, oder?
Auf meine Ausschreibung hat sich eine bosnische Firma gemeldet, die in München einen Sitz hat. Die Inhaberin ist 1992 vor den Massakern des Balkankriegs geflüchtet und lebt seither in München. Nähen lässt sie aber immer noch in Bosnien, in der Nähe von Sarajevo. Dort begann der Erste Weltkrieg, als der Thronfolger Österreich-Ungarns bei einem Attentat ermordet wurde. Die Stiele aus Draht sind von einer Firma aus Oberfranken. Deren Besitzer ist ebenfalls aus Bosnien, 1992 als zwölfjähriger nach Deutschland geflohen. Dass beide aus Bosnien kommen, war Zufall, hat mich aber sehr bewegt. Es war ihr Wunsch, dass der Titel meiner Arbeit, also "Never again", auch auf Serbokroatisch am Info-Container angebracht wird, damit auch ihr Schicksal mit dem Kunstwerk verbunden ist. 

Warum findet die Aktion hier auf dem Münchner Königsplatz statt?
Ich habe seit Jahrzehnten meinen Hauptwohnsitz in München. Ich hab als Geograf und Stadtplaner an der TU in München gearbeitet und bin jeden Tag über den Königsplatz gelaufen. München war während der Nazizeit "Hauptstadt der Bewegung", und der Königsplatz war der wichtigste Paradeplatz für die Nazis. Dort hielten sie ihren Totenkult ab für die Gefallenen des Hitler-Putsches, die sie als "Blutzeugen der Bewegung" ehrten. Bei diesem Anlass haben sich tausende Soldaten dort versammelt und Treue bis in den Tod geschworen. Am 6. November 1980 fand hier auf dem Königsplatz die öffentlichen Vereidigung von Bundeswehr-Rekruten statt. Ich gehört damals zu denen, die dagegen protestierten, dass man so etwas 35 Jahren nach Ende der Nazizeit an dem Ort, wo die SA, SS und Wehrmacht einst standen, wieder abhält. Das war eine ungeheure Geschmacklosigkeit.

Haben Sie selbst Wehrdienst geleistet?
1966 bin ich eingezogen werden. Ich wollte nicht, aber war damals zu dumm, zu verweigern. Das war auch nicht so einfach. Ich hab dann versucht, das kleinste Übel auf mich zu nehmen und mich für den Sanitätsdienst gemeldet. Musste dann aber die gleiche Ausbildung machen wie alle anderen. Auch Schießen lernen. Vor ein paar Tagen ist mir im Traum gekommen, ich hätte meine Mohnblumen mit einem Panzer hierher transportiert. Keine Ahnung, wieso …

Was halten Sie von der Wiedereinführung der Wehrpflicht in Form eines Pflichtjahres, für das sich die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer stark macht?
Ich bin ein entschiedener Gegner der Wiedereinführung der Wehrpflicht. Und ich bin dafür, dass deutsche Soldaten aus sämtlichen internationalen Einsätzen zurückgezogen werden. Ich verstehe die deutsche Bundeswehr als reine Verteidigungsarmee. Wenn wir unsere Soldaten aus internationalen Einsätzen heraushalten, dann haben wir auch genug Kräfte für die Landesverteidigung. 

In diesem Sinn formulieren sie mit "Never Again" also ein konkretes Ziel. Kein Krieg mehr, kein Morden, kein Terror, keine Gewalt.
Ich würde es anders ausdrücken: Vielmehr soll die Arbeit ein Gegenpol sein zu den aktuellen Entwicklungen: dass manche meinen, man müsse sich für neue Kriege wappnen, dass sogenannte Reichsbürger sich bis an die Zähne bewaffnen. Und Gewaltbereite in Chemnitz durch die Straßen ziehen. Donald Trump kündigt das Raketenabkommen mit Russland auf. Russland ist arm, und das Geld, das zur Wiederaufrüstung verwendet wird, fehlt anderswo. Was passiert nur mit uns? Auf Gewalt mit Gegengewalt zu antworten, ist doch keine Lösung!

"Never Again", zu sehen auf dem Königsplatz in München, 11. November bis 2. Dezember