2022 war das Jahr des Nachholeffekts: Nach einigen pandemiebedingten Verschiebungen fand plötzlich alles gleichzeitig statt. Die Venedig-Biennale kam mit einer großartigen Ausgabe zurück, die Documenta Fifteen hielt uns in jeder Hinsicht in Atem, Biennalen in Istanbul oder Lyon wollten auch ein Stück vom Aufmerksamkeitskuchen – und dazu kamen die Museen mit ihrem vielfältigen Programm, die Galerien und Messen. Wer hat in diesem ereignisreichen Kunstjahr den tiefsten Eindruck gemacht? Wer hat sich mit guten Ideen und Engagement hervorgetan, wer hat Werke gezeigt, die wir nicht vergessen werden?
Die Antworten finden Sie in unserer Liste der 100 einflussreichsten Personen des Kunstbetriebs. Jedes Jahr neu erstellen wir dieses Ranking, in engem Austausch mit einem Advisory Board von Expertinnen und Experten aus der Kunstwelt. In dieser Liste nehmen wir Künstlerinnen und Künstler in den Fokus, aber auch diejenigen, die Kunst im Markt oder in den Institutionen fördern und ermöglichen. Das Monopol-Top-100-Ranking soll keine ewige Bestenliste sein, und wir spiegeln auch nicht die Auktionscharts. Wir wollen stattdessen Einfluss und Sichtbarkeit im konkreten Jahr bewerten. Vor allem bei den Künstlerinnen und Künstlern führt das zwangsläufig zu einer hohen Fluktuation, denn wer gerade große Ausstellungen hatte, ist mit höherer Wahrscheinlichkeit dabei.
Wer urteilt, muss seine Perspektive offenlegen: In unserem Fall ist es die eines in Deutschland beheimateten Kunstmagazins, das auf das internationale Geschehen blickt. Dass ein Magazin aus Accra oder Neu-Delhi andere Prioritäten setzen würde, versteht sich von selbst. In erster Linie verstehen wir diese Liste als einen Debattenbeitrag – und als Hommage auf all die Menschen, die die Kunst täglich leben und erlebbar machen.
Texte: Elke Buhr, Jens Hinrichsen, Silke Hohmann, Alia Lübben, Saskia Trebing, Daniel Völzke
Platz 1: Nan Goldin
Die Kunst der Fotografin Nan Goldin entsteht aus Empathie und Liebe. Ihre intimen Bilder aus der New Yorker Subkultur haben seit den 1970er-Jahren Kunstgeschichte geschrieben, sie zeigen ungefiltert Lust, Schmerz und den Kampf um ein selbstbestimmtes Leben. Obwohl die Fotografien deutlich in ihrer Zeit und ihrem Milieu verhaftet sind, wirken sie gerade aktueller denn je. Denn in Goldins Werk geht es auch um fluide Identitäten, queere Körper und den Abbau von Stigmata rund um Prostitution, Krankheit oder Sucht - Themen, die den politischen Diskurs der vergangenen Jahre geprägt haben und auch eine jüngere Generation von Künstlerinnen und Künstlern beschäftigen.
Außerdem hat die 69-Jährige das Museum als Ort des Aktivismus neu definiert. Zusammen mit der Initiative P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) kämpft sie gegen die US-amerikanische Mäzenatenfamilie Sackler, die Millionen an internationale Kunst- und Bildungsinstitutionen spendete und ihr Vermögen maßgeblich dem opioidhaltigen Schmerzmittel Oxycontin verdankt. Ihrer Firma Purdue Pharma wird vorgeworfen, das Medikament aggressiv beworben und bewusst dessen Suchtpotenzial vertuscht zu haben. Damit trägt das Unternehmen laut mehrerer Studien eine Mitverantwortung für die Opioidkrise in den USA, die bereits mehr als einer halben Million Menschen das Leben gekostet hat.
Nachdem sie selbst abhängig von Oxycontin gewesen war, inszenierte Nan Goldin Protest-Performances in den bekanntesten Museen der Welt: dem Met in New York, dem Louvre in Paris oder dem Victoria and Albert Museum in London. Nach anfänglich erbittertem Widerstand sind viele Häuser inzwischen den Forderungen von P.A.I.N. nachgekommen: Spenden der Mäzene werden nicht mehr angenommen, der Name Sackler ist aus Museumsbauten, Bildungsprogrammen und Stipendien verschwunden. Mit ihren Aktionen hat Nan Goldin der Diskussion um Geldflüsse im Kunstbetrieb eine neue Dringlichkeit verliehen - und auch einen Nährboden für andere politische Interventionen in Museen bereitet.
2022 war das Jahr, an dem man an ihrem beeindruckenden Werk nicht vorbei kam. Mit dem British Museum und dem V&A trennten sich die letzten großen Häuser von den Sacklers, und im Moderna Museet in Stockholm eröffnete ihre große Retrospektive, die danach auf Reisen geht. Außerdem gewann der Dokumentarfilm "Nan Goldin: All the Beauty and the Bloodshed" von Regisseurin Laura Poitras den Goldenen Löwen beim Kinofestival von Venedig. Goldin vereint in ihrem Werk emotionale Wucht mit einem scharfen Blick auf soziale Verhältnisse. Sie schaut hin, auch wenn es weh tut.
Ein ausführliches Porträt unserer Nummer eins, Nan Goldin, lesen Sie hier.
Platz 2: Ruangrupa
Egal wie man zu ihnen steht: Es gab wohl niemanden in diesem Jahr, der in der Diskussion präsenter war als das indonesische Kollektiv Ruangrupa. Die Antisemitismus-Kontroverse, die um ihre Documenta Fifteen entbrannte, wird Deutschland noch lange beschäftigen – und sagt deutlich mehr über die hiesige Debattenlage als über die Ausstellung selbst. In der internationalen Kunstwelt ist derweil Ruangrupas Versuch, eine Großausstellung komplett neu zu denken, von vielen als bahnbrechend empfunden worden.
Platz 3: Francis Alÿs
Francis Alÿs mit Humor, Poesie und tiefem Humanismus. Auf der Venedig-Biennale zeigte er im belgischen Pavillon seine Filme von Kinderspielen aus aller Welt, unprätentiös und ergreifend. Wenn es einen Publikumslöwen gäbe, hätte er ihn bekommen müssen.
Platz 4: Cecilia Alemani
Ihre Venedig-Biennale "The Milk of Dreams" mit Werken von Künstlerinnen aus mehreren Jahrhunderten hat die Kunstgeschichte sehr viel reicher und weiblicher gemacht. Die beste Antwort gab die in New York lebende Mailänderin auf die Frage, warum so wenig Männer auf ihrer Künstlerliste stehen: Sie hätte welche ausgestellt, wenn sie interessant genug gewesen wären.
Platz 5: Joan Jonas

Joan Jonas, 2022
Mit 86 Jahren ist die US-amerikanische Künstlerin noch auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Sie hat nicht nur mit ihren Performances seit den 1970er-Jahren Kunstgeschichte gemacht, ihre Ausstellung im Münchner Haus der Kunst zeigte sie auch als Vordenkerin der aktuellen ökologischen Sensibilität in der Kunst. Ihre Bildfindungen sind immer wieder magisch.
Platz 6: Max Hollein
Er ist nicht nur Direktor eines der wichtigsten Museen der Welt, seit August 2022 ist Max Hollein auch noch Geschäftsführer des Metropolitan Museum in New York. Mehr Macht kann man im Kunstbetrieb nicht haben. Hollein nutzt sie für ein progressives Programm: Die kunsthistorischen Schätze des Museums macht er mit Schauen wie "The African Origin of Civilization", einer Ausstellung zur farbigen Antike, oder dem spektakulären "Afrofuturist Period Room" fit für Gegenwartsdiskurse.
Platz 7: Simone Leigh
Wohl keine zeitgenössische Bildhauerin bringt politischen Willen so elegant und einprägsam in Form wie die US-Amerikanerin Simone Leigh. Ihre architektonisch anmutenden Skulpturen verbinden Schwarze Frauenkörper mit vorkolonialen und ländlichen Bautechniken – und schreiben so ihre ganz eigene feministische Kunstgeschichte. Auf der Venedig-Biennale bespielte sie den Pavillon der USA und gewann den Goldenen Löwen für den besten Beitrag zur Hauptausstellung. Leigh schaut auf Übersehenes aus der Vergangenheit, um daraus die Zukunft zu formen.
Platz 8: Meron Mendel
Im Streit um den Antisemitismus auf der Documenta Fifteen blieb der Direktor der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank verlässlich die Stimme der Vernunft. In den anstehenden Debatten um multidirektionale Erinnerung, Kunstfreiheit und die Präsenz israelkritischer Positionen im Kunstbetrieb muss Mendel auch in Zukunft gehört werden.
Platz 9: Schanna Kadyrowa
Die vielfach ausgezeichnete Bildhauerin aus Kiew arbeitet mit Fundstücken aus dem Ukraine-Krieg. Ihre Skulpturen sind eindringliche Readymades – unmittelbares Anschauungsmaterial. Mit ihrer Kunst sammelt sie Ressourcen für ihre Community, finanziell wie ideell, und bringt, wie viele ihrer Künstlerkollegen, die unauflösbaren Widersprüche des Lebens im Jahr 2022 auf den Punkt
Platz 10: Marc Spiegler
Die erste Art Basel/Miami Beach besuchte er noch als Kunstmarkt-Journalist, 20 Jahre später bringt er die Messe erfolgreich nach Paris und scheidet dann als einer der mächtigsten Männer des Kunstmarkts aus der Art Basel. Egal ob als Messechef, Podcast-Host oder Kritiker: Marc Spiegler kommt schnell auf den Punkt, erkennt Qualität, setzt sich für sie ein und bleibt denen treu, die es genauso machen.
Platz 11: Bénédicte Savoy
Dass Deutschland nun tatsächlich einen großen Teil seiner Benin-Bronzen an Nigeria zurückgeben will, ist auch der Hartnäckigkeit von Bénédicte Savoy zu verdanken. Die Kunsthistorikerin hat mit ihren Studien nicht nur dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ins museale Gewissen geredet, sondern auch in Deutschland die Debatte um koloniale Raubkunst geprägt. Aus Beschwerden gegen das Berliner Humboldt Forum wurde eine Zeitenwende für den Umgang mit Sammlungen.
Platz 12: Wolfgang Tillmans
Nur fünf Jahre nach den beiden Großausstellungen in der Tate Modern und der Fondation Beyeler hat Wolfgang Tillmans schon wieder genug Ideen, um aus dem MoMA ein Tillmans- Universum zu machen. Leichtfüßig, intelligent und ungekünstelt, immer heutig, immer einer großen demokratischen Idee verbunden – ob in den großen Hallen der Kunst oder auf Instagram.
Platz 13: Susanne Pfeffer
Sie kann mit den kompliziertesten Künstlerinnen und Künstlern, egal wie scheu oder unerreichbar sie sind. Als Leiterin des MMK stemmt sie seit Jahren eine kuratorische Herkulesaufgabe nach der anderen, zuletzt Marcel Duchamp, den Vater der Gegenwartskunst, an den sich jahrzehntelang niemand mehr herangetraut hatte. Auch das nächste Projekt wird groß und wagemutig: eine Einzelausstellung der als sehr zurückgezogen bekannten Rosemarie Trockel.
Platz 14: Demna
Er erhebt die Ausgestoßenen zu Schönheitssymbolen, seine Mode verwandelt die Codes von Armut in Eleganz. Wie problematisch das ist, reflektiert der Balenciaga-Designer Demna, der selbst ein Geflüchteter ist, überzeugend mit. Sein letzter Catwalk war ein Matsch-Korso vom Meister der moralischen Widersprüche, Santiago Sierra.
Platz 15: Miuccia Prada
Kunst oder Mode? Würde man die Chefin des einflussreichsten Modehauses vor die Wahl stellen, sie würde Kunst wählen. Mit ihrer kontinuierlichen Neugier und Bereitschaft zum Experiment überrascht sie nicht nur in ihrer Fondation in Mailand, sondern alle zwei Jahre auch in Venedig mit absolut ungewöhnlichen Ausstellungen, wie zuletzt zu umfassenden Einblicken ins menschliche Gehirn.
Platz 16: Hito Steyerl
Die Medienkünstlerin scheute vor politischen Kontroversen nicht zurück: Erst zog sie ihr Werk unter großem Medienecho von der Documenta Fifteen zurück, um gegen deren Umgang mit dem Antisemitismusskandal zu protestieren, dann kaufte sie eine große Arbeit aus der Julia Stoschek Collection zurück, weil deren Umgang mit der Geschichte des Unternehmens ihrer Familie während des Nationalsozialismus in die Kritik geraten war.
Platz 17: Iwan und Manuela Wirth
Das Paar beweist mit Hauser & Wirth nicht nur Geschick bei der Programmgestaltung, sondern dehnt auch mit der Entwicklung von Immobilien den Galerienbegriff ins Unermessliche. In diesem Jahr sorgte der H&W-Mischkonzern für Schlagzeilen mit einer neuen Dependance in Paris, dem Kauf eines Members' Club in London, dem Launch eines Performancefestivals in Los Angeles und einer hauseigenen Auktionsplattform. Immer viel los bei den Wirths!
Platz 18: Cecilia Vicuña
Eine "empfindsame, gefühlsbetonte Lyrik in drei Dimensionen", so nannte Monopol- Kolumnist Dieter Roelstraete einmal die Arbeit der chilenischen Künstlerin. Die 74-Jährige nimmt immer wieder Bezug auf traditionelle Khipu, eine in den Anden verwendete Knotenschrift. Für ihr Lebenswerk erhielt sie im Frühjahr den Goldenen Löwen der Venedig-Biennale. Aktuell sind ihre wunderbaren Textilarbeiten in der Turbinenhalle der Tate Modern in London zu sehen.
Platz 19: Klimakleber und Breiwerferinnen
Ob es sinnvoll ist, wertvolle Gemälde in Gefahr zu bringen, um auf die gigantischen Umweltprobleme und die Trägheit von Politik und Wirtschaft aufmerksam zu machen? Jedenfalls betonen die Aktivistinnen und Aktivisten, die sich an wertvollen Vermeers und Monets vergreifen, mit ihren Attacken den Wert der Kunst für die Gesellschaft.
Platz 20: Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
Der in Kamerun geborene, international arbeitende Kurator hat mit dem Kunstraum Savvy Contemporary einen der lebendigsten Orte in Berlin geschaffen. Der promovierte Biotechnologe vertraut nicht nur auf postkoloniale Diskurse, sondern auch auf exzellente Musik und positive Vibes – was Lust macht auf seine Intendanz am Haus der Kulturen der Welt, die jetzt beginnt.
Platz 21: Anne Imhof
Als Russland die Ukraine angriff, verließ die Künstlerin Moskau, wo sie im Garage Museum of Contemporary Art ausstellen sollte. Stattdessen verwandelte die diesjährige Trägerin des Binding-Kulturpreises Anne Imhof das Stedelijk Museum Amsterdam in einen düster-verlockenden Angstraum. Mit ihrem Style und ihrer Musik interessiert sie ein ganz neues Publikum für Kunst, und ihr cooles, dunkles Pathos ist immer noch tröstlicher als alles, was in der Welt geschieht.
Platz 22: Chris Dercon
Kurz bevor er als Direktor im Herbst den Pariser Grand Palais verließ, hat der gewiefte Kulturmanager noch einen Coup eingefädelt: Unter seiner Leitung konnte die Kunstmesse Art Basel den lange Zeit von der Konkurrentin Fiac genutzten Zeitraum im Oktober für eine neue Kunstmesse in der französischen Hauptstadt übernehmen. Im Dezember wird der Belgier sein Amt als Generaldirektor des Pariser Museums Fondation Cartier antreten.
Platz 23: Max Hetzler
Seit 1974 betreibt Max Hetzler seine Galerie – und überrascht doch jedes Jahr aufs Neue. Diesmal mit einem neuen Kunstraum und Aufenthaltsstipendium im texanischen Marfa, einem Städtchen, das eigentlich ganz vom minimalistischen US-Bildhauer Donald Judd geprägt ist. Doch Hetzler weiß, wie man neue Orte erobert: Er hat seine Galerie einst in Stuttgart gestartet, führte sie in Köln weiter und betreibt heute in Berlin gleich vier Räume sowie Dependancen in Paris und London.
Platz 24: Boris Mikhailov
In den 1960er-Jahren begann Boris Mikhailov, subversive Aufnahmen des Alltags in der Sowjetunion zu machen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks blieb seine Kunst politisch: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine haben die Bilder des Kaiserring-Preisträgers von 2015 eine neue Aktualität. Von Berlin aus engagiert er sich weiter gegen den Krieg in seinem Heimatland.
Platz 25: Carrie Mae Weems
Seit den 1980er-Jahren zeichnet die Amerikanerin in konzeptuellen Fotoserien, Filmen oder Performances ein vielfältiges Bild von Schwarzer, weiblicher Identität, seit Langem ist sie ein wichtiges Vorbild für viele jüngere Künstlerinnen und Künstler. Jetzt war endlich ihre erste Retrospektive in Deutschland im Württembergischen Kunstverein zu sehen.
Platz 26: Kader Attia
Aus dem Reparieren von Verletzungen hat der 1970 in Frankreich geborene Künstler eine Philosophie gemacht. Seine postkoloniale Berlin Biennale, die sich der planetarischen Krise widmete, mag kuratorische Schwächen gehabt haben, aber thematisch traf sie ins Herz der Zeit.
Platz 27: Arthur Jafa
"Love is the Message, the Message is Death" – seine schon legendäre Videocollage von 2016 lief bis vor Kurzem in Arles, aktuell ist eine neue Sound- und Filminstallation in Turin zu sehen. Wut, Widerstand, Hoffnung prägen das Werk des aus Mississippi stammenden Filmemachers und Allroundkünstlers, der eine zentrale Stimme der Black-Lives-Matter-Bewegung bleibt.
Platz 28: Eyal Weizman
Als Mitbegründer des Kollektivs Forensic Architecture leistet der israelische Architekt unverzichtbare Aufklärungsarbeit – zum Beispiel zu dem rassistischen Terroranschlag in Hanau. Als Autor kluger Essays fügte er der Debatte um die Documenta Fifteen eine kritische jüdische Perspektive hinzu.
Platz 29: Sonia Boyce
Die britische Künstlerin wurde mit einem Skandal bekannt, als sie in Manchester ein Gemälde von John William Waterhouse wegen Sexismus-Verdacht temporär abhängen ließ. Ihre Kunst ist jedoch alles andere als reißerisch, sondern schaut seit vielen Jahren auf die blinden Flecke der europäischen Kunstgeschichte. Ihr britischer Pavillon in Venedig feierte Schwarze Musikerinnen und war der mit Abstand sinnlichste der Biennale – zu Recht bekam sie dafür den Goldenen Löwen.
Platz 30: Małgorzata Mirga-Tas
Sowohl im polnischen Pavillon in Venedig als auch auf der establishmentkritischen Documenta Fifteen zogen die märchenhaften Wandteppiche von Małgorzata Mirga-Tas die Blicke auf sich. So träumerisch sie daherkommen, geht es doch um Existenzielles: die Stigmatisierung von Roma und Romnja. Mit Figuren wie Mirga-Tas bekommen Künstlerinnen aus der Community endlich die Repräsentation, die sie verdienen.
Platz 31: Shirin Neshat
In den vergangenen Monaten ist Shirin Neshat zur Stimme der Causa Iran im Kunstkosmos geworden. Mit Videoinstallationen, Bannern und Mahnwachen hält sie die Proteste im Gespräch. Fast vergisst man da, dass noch ihr neuer Film in die Kinos gekommen ist. Darin geht es um staatliche Kontrolle in den USA – noch so ein aktuelles Thema.
Platz 32: Frank Bowling
Über Jahrzehnte hat der 1934 in Britisch- Guayana geborene Künstler seine abstrakte Malerei entwickelt. Jetzt vertritt ihn Hauser & Wirth, und seine leuchtenden Gemälde sind gefragt wie nie. In Köln hat er gerade den Wolfgang- Hahn-Preis bekommen
Platz 33: Francesca Thyssen-Bornemisza
Ihr Ocean Space zählte zu den besten Collateral Events der Venedig- Biennale. Gut, dass der Projektraum, der sich mittels Kunst dem Schutz der Ozeane widmet, keine vorübergehende Begleiterscheinung ist, sondern inzwischen einer der avanciertesten Orte für Gegenwartskunst an der Lagune. Mit einer Mäzenin im Hintergrund, die ihre Themen und Akteure genau auswählt, um tatsächlich etwas Sinnvolles zu tun.
Platz 34: Yilmaz Dziewior
Unter seiner Leitung macht das Ludwig in Köln mit seinen Ausstellungen stets spannende Entdeckungen. Nach der Schau über den queeren Warhol 2021 schürfte Yilmaz Dziewiors deutscher Pavillon in Venedig mit Maria Eichhorn tief in der Biennale-Geschichte. Vorwürfe, er habe ob seines fantastischen Netzwerks an seiner eigenen Ernennung mitgewirkt, konnte er souverän entkräften.
Platz 35: Susanne Gaensheimer
Mit ruhiger Hand führt die Direktorin der Kunstsammlung NRW ihren großen Museumstanker in die Zukunft. Nachdem sie die Sammlung und das Ausstellungsprogramm diverser gemacht hat, widmet sie sich jetzt mit großem Engagement den Fragen von Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit.
Platz 36: Hans Ulrich Obrist
Das Leben des Kurators findet immer in mehreren Sphären zugleich statt, nie sieht man ihn nicht kommunizieren. Vermögende Sammlerinnen und Sammler, noch unentdeckte Künstlerinnen und Künstler, die Kunstkritik, die Architekturszene – Hans Ulrich Obrist bringt sie alle zusammen. Sein Netzwerk ist das Gerüst der Kunstwelt. Auf Instagram lässt er alle daran teilhaben, nicht nur Besucher der Londoner Serpentine Galleries, deren künstlerischer Leiter er für immer zu bleiben scheint.
Platz 37: Donna Haraway
Speziesübergreifende Allianzen, eine neue Definition von Menschlichkeit und Empathie mit einem gequälten Planeten. Vieles von dem, was gerade die zeitgenössische Kunst dominiert, wurde von der US-Philosophin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway vorgedacht. In jedem Oktopus und jedem Mikroorganismus im Ausstellungsraum stecken ein paar Inspirationsatome Haraway.
Platz 38: Maria Eichhorn
Angeblich wollte Maria Eichhorn den deutschen Pavillon der 59. Venedig-Biennale aus den Giardini verschwinden und woanders wieder aufbauen lassen. Am Ende wählte die Konzeptkünstlerin eine mildere Variante. Aber Anarchie beginnt im Kopf – zum Kopfzerbrechen möglichst vieler.
Platz 39: David Zwirner
Unter den vier Megagalerien ist seine die intellektuellste. Die Liste derjenigen, die 2022 mit ihren Ausstellungen geprägt haben, spricht für sich: Wolfgang Tillmans im MoMA, Barbara Kruger in der Neuen Nationalgalerie, Alice Neel im Centre Pompidou, Francis Alÿs auf der Venedig-Biennale. Spezialisiert auf Nachlässe, hat die Galerie sich auch des bis zur großen MMK-Ausstellung 2020 unbekannten karibischen Künstlers Frank Walter angenommen.
Platz 40: Klaus Biesenbach
Innerhalb kürzester Zeit hat der neue Direktor der Nationalgalerie es geschafft, Berlins schönstes Ausstellungshaus zu öffnen. Die Neue Nationalgalerie brummt vor Performances und Events, und mit großer Reaktionsschnelle stellte Biesenbach hier auch Charity-Veranstaltungen für die Ukraine oder politische Manifestationen zur Unterstützung der Proteste im Iran auf die Beine.
Platz 41: Richard Bell
Er rückte auf der Documenta Fifteen den Kampf der australischen Aborigines in den Fokus. Auf einer rot flackernden LED-Anzeige am Fridericianum forderte er Reparationszahlungen in astronomischer Höhe, die Vorherrschaft westlicher Kunst kündigt er auf – ein starker, kompromissloser Auftritt.
Platz 42: Marion Ackermann
Sie leitet mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden nicht nur einen der größten Museumsverbunde Deutschlands, sondern ist im Hintergrund auch als Jurymitglied (etwa beim Kaiserring in Goslar oder bei der Antisemitismus-Taskforce der Documenta) maßgeblich am Kunstgeschehen beteiligt. Mit den gegenwärtigen Herausforderungen – Klimakleber und Einbrecher, Energieausfall und Rechtspopulisten – nimmt sie es stets souverän auf.
Platz 43: Isaac Julien
Der Goslarer Kaiserring steht ihm gut: Isaac Julien glänzt mit einem Werk ohne Grenzen. Von seinen Anfängen als Filmemacher in den 1980ern bis zu seinen jüngsten Filminstallationen, in denen Tanz, Musik, Malerei oder Skulptur zusammenfließen, hat der Brite eine unverwechselbare visuelle Sprache entwickelt. Klare Kante gegen Chauvinismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit gehört dazu.
Platz 44: Noah Horowitz
Dieses Jahr ließ die Kunstmesse Art Basel gleich zwei Bomben platzen: zuerst mit der Ankündigung einer neuen Messe in Paris, dann mit dem Abgang des langjährigen Direktors Marc Spiegler (siehe Platz 10). Für Nachfolger Noah Horowitz ist es eine Rückkehr, verantwortete er doch von 2015 bis 2021 als US-Direktor die Ausgabe in Miami Beach. Zuvor war er Executive Director der New Yorker Kunstmesse Armory Show. Die nächste überraschende Pressemitteilung aus Basel wird dann also von Horowitz unterschrieben. Wir sind gespannt.
Platz 45: Miriam Cahn
Scharf kritisierte sie die fehlende Aufarbeitung der Geschichte der Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich und wollte ihre Werke daraus abziehen. Die eigene Familiengeschichte – der Vater emigrierte aus Nazideutschland in die Schweiz – ließ Miriam Cahn zuletzt in ihrer Soloausstellung "MEINEJUDEN" mitschwingen. Für ihr außergewöhnliches malerisches Werk hat die 1949 in Basel geborene Künstlerin in diesem Jahr den Rubenspreis der Stadt Siegen erhalten.
Platz 46: Sprüth Magers
Hochverdient wurde Monika Sprüth in diesem Jahr mit dem Preis der Art Cologne geehrt. Sie stellte weibliche Positionen nach vorne, als der Betrieb noch komplett in Männerhand war, und setzt seit Jahrzehnten Maßstäbe für die Vermittlung zeitgenössischer Kunst. Gemeinsam mit Philomene Magers schafft sie es dabei, mit dem Programm ihrer international agierenden Galerie auf der Höhe der Zeit zu bleiben.
Platz 47: Cyprien Gaillard
Es war eine Zeit lang etwas ruhiger um den französischen Künstler – als habe er Kräfte gesammelt für den großen Auftritt in seiner alten Heimatstadt Paris. Seine Doppelausstellung im Palais de Tokyo und in den Lafayette Anticipations war der Höhepunkt des Pariser Kunstherbsts.
Platz 48: Mickalene Thomas
Glamour und Empowerment sind die Hauptzutaten der Kunst von Mickalene Thomas. In den USA ist sie längst ganz oben, und jetzt wird sie auch in Europa bekannter: Im Herbst setzte die Afroamerikanerin im Musée de l’Orangerie den französischen Impressionisten Collagen und Videos mit selbstbewussten Schwarzen Frauen entgegen.
Platz 49: Laura Poitras
Die Dokumentarfilmregisseurin hat Whistleblower wie Edward Snowden unterstützt und politische Missstände aller Art thematisiert. Damit hat sich Laura Poitras in ihrer US-Heimat viele Feinde gemacht. Es dürften noch Poitras-Gegner dazukommen, wenn "All the Beauty and the Bloodshed" über die Opioidkrise und Nan Goldin 2023 in die Kinos kommt. Auf dem Filmfest von Venedig gewann er den Goldenen Löwen.
Platz 50: Lu Yang
Was es heißt, ganz in der digitalen Gegenwart zu leben, zeigt diese Kunst in aller überfordernden Konsequenz. In Lu Yangs Videoarbeiten werden in schriller Gaming- Ästhetik große Themen wie Feminismus, fluide Geschlechter und Wiedergeburt abgeräumt. Avatare durchleben menschliche Dramen und tragen uralte Mythen in die Gegenwart. Hier treffen sich Anime, Neurowissenschaft und buddhistisches Denken in einer neuen Form von Realität.
Platz 51: Dan Perjovschi
Dan Perjovschi schenkte der Documenta Fifteen mit seinen Zeichnungen auf den Säulen des Fridericianums eine visuelle Signatur und imprägnierte sie mit Humor und politischer Aktualität. Auch im bittersten Streit blieben seine Kommentare lustig und seine Solidarität mit der Gemeinschaft der Künstlerinnen und Künstler intakt.
Platz 52: Julia Stoschek
Die Mäzenin und passionierte Sammlerin von zeitbasierter Kunst ist in diesem Jahr ins Visier von Aktivistinnen und Aktivisten geraten, die eine entschlossenere Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte fordern, der Stoschek ihr Vermögen verdankt. Ihren Einfluss auf das Kunstgeschehen hat das allerdings nicht geschmälert. Die Kunstlandschaft wäre ohne ihre finanzielle Unterstützung eine andere, und die beiden Standorte ihrer Stoschek Foundation bieten zukunftsweise Ausstellungen.
Platz 53: Barbara Kruger
Eine textgewaltige Präsenz hatte Barbara Kruger in diesem Jahr: eine Auftragsarbeit fürs MoMA, Rauminstallationen im Arsenale und in der Berliner Neuen Nationalgalerie. Mit ihrer unverwechselbaren Blockschrift ist sie eigentlich immer aktuell, angesichts der derzeitigen globalen Demokratieskepsis hallen ihre überbordenden Worträume aber besonders laut nach. Mit großen Lettern widersteht Kruger der populistischen Stimmung.
Platz 54: Michael Armitage
Der kenianisch-britische Maler ist noch keine 40 Jahre alt, aber seine Malerei gilt zu Recht bereits als meisterhaft. In Turin maß er seine Zeichnungen mit denen Goyas, ohne unterzugehen, in Basel zeigte er parallel zur Messe seine immer komplexer werdenden Gemälde, die Mythen, Natur und Gesellschaft seiner langjährigen Heimat Kenia mit westlicher Malereitradition verschränken.
Platz 55: Marlene Dumas
Seit Jahrzehnten ist die südafrikanische Malerin mit Wohnsitz in Amsterdam eine Klasse für sich. Die große Ausstellung im Palazzo Grassi in Venedig brachte jetzt die manchmal geradezu aggressive Erotik ihres Werks nach vorn.
Platz 56: Udo Kittelmann
Eine Ausstellung über die Funktionsweise des Gehirns: In der Fondazione Prada verwandelte der Kurator Udo Kittelmann in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Taryn Simon diese unmögliche Aufgabe in ein funktionierendes Konzept. Als künstlerischer Leiter des Museums Frieder Burda gelang ihm mit der spektakulären Präsentation der Häkel-Korallen von Margaret und Christine Wertheim ein weiterer Coup.
Platz 57: Precious Okoyomon
Precious Okoyomon aus New York arbeitet mit Erde und Pflanzen und schafft eindrucksvolle Bilder für das Ende der fatalen Hybris des Menschen der Natur gegenüber. Auf der Hauptausstellung der Venedig- Biennale lockte Okoyomon auf verschlungenen Pfaden durch einen grünen Skulpturengarten.
Platz 58: Katya Garcia Antón
Der Sámi-Pavillon auf der diesjährigen Venedig-Biennale erinnerte die Kunstwelt daran, dass es auch im äußersten Norden Europas ein indigenes Volk gibt, das um Selbstbestimmung und seine Art zu leben kämpft. Die Kuratorin Katya Garcia Antón hat das Projekt als Direktorin des Office for Contemporary Art Norway (OCA) vorangetrieben. Und ein riesiges Künstler- und Beraterkollektiv geschaffen, das die Arktis auf die Agenda der Biennale-Pilger setzte.
Platz 59: Glenn D. Lowry
Normalerweise gibt man sich diesen Stress ab einem bestimmten Alter nicht mehr, nimmt vielleicht einen gemütlichen Beraterjob bei einem Auktionshaus an oder schreibt seine Memoiren. Nicht so "Mr MoMA": Glenn D. Lowry leitet das New Yorker Museum of Modern Art seit 1995. Der heute 68-Jährige konnte nach dem Umbau und der Neuausrichtung des Hauses 2019 und nach den Corona-Lockdowns seine Institution in diesem Jahr endlich wieder in vollem Betrieb fahren.
Platz 60: François Pinault
Der bretonische Bauernsohn mit dem Luxus-Imperium (Gucci, Balenciaga) betreibt im Herz von Paris ein Rondell der Superlative. Das Neueste und Teuerste der Kunst wird in einem seiner drei Privatmuseen, der Bourse de Commerce, wie Trophäen präsentiert. Jetzt kuratiert sie Emma Lavigne, die er vom Palais de Tokyo abwarb.
Platz 61: Thaddaeus Ropac

Galerist Thaddaeus Ropac
Georg Baselitz, Robert Rauschenberg, Robert Longo, Martha Jungwirth, Adrian Ghenie, Daniel Richter: Die Künstlerinnen und Künstler der Galerie Ropac waren auch in diesem Jahr mit wichtigen Ausstellungen präsent. Thaddaeus Ropac selbst zieht im Hintergrund souverän die Fäden – und arbeitet über die gute Präsenz in Salzburg, Paris und London hinaus auch an den wichtigen Kontakten nach Asien.
Platz 62: Stephanie Rosenthal
Wenn es stimmt, dass man gehen soll, wenn es am schönsten ist, dann hat Stephanie Rosenthal alles richtig gemacht. In Rekordzeit hat sie den Gropius Bau zu einem helleren, offeneren Ort mit einem konsequenten zeitgenössischen Programm gemacht. Und jetzt zieht sie weiter nach Abu Dhabi, wo sie als Direktorin den Aufbau des Guggenheim gestalten wird.
Platz 63: Henrike Naumann
Mit ihren politisch aufgeladenen Installationen aus 1990er-Jahre-Möbeln macht Henrike Naumann jetzt auch international auf sich aufmerksam, unter anderem im Sculpture Center in New York. Bis kurz vor Kriegsbeginn war sie in Kiew aktiv, auf der Documenta Fifteen arbeitete sie mit der Ghetto Biennale Haiti zusammen.
Platz 64: Larry Gagosian
Der Galerist, der schon so oft Verhandlungsgeschick bewiesen hat, steht möglicherweise vor dem Deal seines Lebens: In den vergangenen Wochen ging das Gerücht, er werde seine Gagosian Gallery an das französische Luxusgüterkonglomerat LVMH verkaufen. Auch wenn er selbst dementiert, so eine Übernahme hätte durchaus ihren Sinn. Schließlich führt der 77-Jährige seine Firma wie ein Modehaus, mit Dependancen weltweit und Künstlernamen, die wie Brands funktionieren. So oder so: Gagosian hat das Kunsthändler-Game auf ein neues Level gebracht.
Platz 65: Wu Tsang
Moved by the Motion heißt die Performancegruppe, die Wu Tsang 2013 mitgegründet hat. Die aus Massachusetts stammende Künstlerin setzt auf eine visuelle Sprache, die Zwischenzustände und fluide Identitäten zu fassen vermag. Auf der Venedig-Biennale faszinierte ihre XR-Installation über Wale, Menschen und ozeanisch dahinströmende Wassermassen.
Platz 66: Faith Ringgold
Die diesjährige Retrospektive der Künstlerin Faith Ringgold im New Museum in New York hieß schnörkellos "American People". Ein ganzes Künstlerinnenleben lang hat die inzwischen 92-Jährige versucht, die rassistischen Monstrositäten in der US-Gesellschaft zu benennen und trotzdem etwas Verbindendes zwischen den Menschen zu finden. Endlich schaut die Kunstwelt richtig hin.
Platz 67: Carolyn Christov-Bakargiev
Sie hat den Ruf, Gegenwind zu spotten und wirklich alles selbst zu machen. Dazu gehört, den Digitalkünstler Beeple über die Venedig-Biennale zu führen, damit er die Kunstwelt kennenlernt. Als Leiterin des Castello di Rivoli zeigt sie den NFT-Auktionsrekordhalter als Erste im Museum. Ob sie wieder recht hat, weist die Zukunft.
Platz 68: Alicja Kwade
Bevor sie 40 wurde, stellte sie auf dem Dach des Metropolitan Museum in New York aus, gerade belegten ihre raumgreifenden Skulpturen ein anderes Machtzentrum, den superluxuriösen Place Vendôme in Paris. Alicja Kwade spielt ganz oben mit und wahrt trotzdem zum vergoldeten Kunstzirkus gesunde Distanz.
Platz 69: Florentina Holzinger
Nackte Frauen auf Motorrädern, blutiges Action Painting, Sex und Exkremente auf der Bühne: Die österreichische Choreografin Florentina Holzinger ist pure Energie. Wir sind ein bisschen neidisch, dass diese kompromisslose Künstlerin vor allem dem Theater gehört und nicht dem Kunstbetrieb.
Platz 70: Hedwig Fijen
Vor über 25 Jahren hat die niederländische Kuratorin und Kulturmanagerin die europäische Wanderbiennale Manifesta begründet. Seit einigen Ausgaben macht sie die Ausstellung mithilfe von Urbanisten und Architekten zum Werkzeug einer wirklich nachhaltigen gesellschaftlichen Transformation – ein Konzept, das in diesem Jahr in Pristina so gut aufgegangen ist wie noch nie. Zukunftsweisend.
Platz 71: Bernard Arnault
Auf der aktuellen "Forbes"-Liste der vermögendsten Menschen der Welt wird der französische Unternehmer auf Platz zwei aufgeführt. Ob er Platz eins der Kunstsammler ist oder doch François Pinault (Platz 60 bei Monopol), gehört zu den langweiligeren Fragen der Kunstwelt. Arnault eröffnete 2014 in Paris die Fondation Louis Vuitton, einen spektakulären Museumsbau von Frank Gehry. 2022 machte er vor allem durch ein Gerücht von sich reden: Angeblich will sein Luxusimperium LVMH die Megagalerie Gagosian kaufen (Platz 64).
Platz 72: Monica Bonvicini
Chuzpe ist ihr zweiter Vorname, ihre Kunst ist aggressiv, unerschrocken und lustig. Wie meisterhaft sie Räume in den Griff bekommt, wird man jetzt in ihrer Einzelschau in der Neuen Nationalgalerie Berlin zu sehen bekommen. Von den Turbulenzen rund um einen #Metoo-Skandal ihrer jetzt Ex-Galerie ließ sie sich nicht beirren.
Platz 73: Elena Filipovic
Die wichtigsten Impulse kommen nicht nur für den Kunsthandel aus Basel, sondern auch wenn es um Diskurse und Entdeckungen geht. Seit 2014 macht die US-Amerikanerin Elena Filipovic in Europa zuverlässige Vorarbeit beim Ausstellen neuer wichtiger Stimmen. 2022 waren es Alia Farid, Pedro Wirz und Michael Armitage.
Platz 74: Atis Rezistans / Ghetto Biennale
Wer auf der Documenta in Kassel war, wird die Installation des haitianischen Kollektivs Atis Rezistans / Ghetto Biennale in einer entweihten katholischen Kirche wohl nie wieder vergessen. Ihre Vodou-inspirierten Skulpturen aus gefundenen Objekten und menschlichen Schädeln verliehen dem Ort eine ganz besondere Aura. Gleichzeitig zeigten die Künstlerinnen und Künstler aus Port-au-Prince, wie Kreativität auch unter widrigsten äußeren Umständen eine Gemeinschaft zusammenhalten kann. Und wie die klassische Kunstwelt zu oft nicht hinschaut.
Platz 75: Damien Hirst
Hunderte seiner signierten Werke warf er in die Flammen. Wer mit blockchainbasierten Hirst-Dateien spekuliert und sie weiterverkauft hatte, dessen analoge Gegenstücke verbrannte der ehemalige Young British Artist medienwirksam. Keiner weiß so gut wie er: Die härteste "Currency" ist Aufmerksamkeit.
Platz 76: Mariane Ibrahim
Die Kunsthändlerin mit französisch-somalischen Wurzeln ließ sich erst in Chicago nieder, um zeitgenössische Kunst aus afrikanischen Staaten zu promoten, und eröffnete dann zielsicher eine Dependance in Paris. Ihre Messestände sind im Nu ausverkauft. Hypes auf dem entfesselten Secondary Market setzt sie strategische Klugheit, Nähe zu ihren Künstlern und Eleganz entgegen.
Platz 77: Jenny Holzer
Was gibt’s schon Neues zu erzählen über Jenny Holzer, die seit Jahrzehnten Sprache in der Öffentlichkeit erforscht und Texte über Displays laufen oder auf T-Shirts drucken lässt? Viel! In diesem Jahr hat sich die Künstlerin als fulminante Kuratorin entpuppt – in einer Louise Bourgeois gewidmeten Ausstellung im Kunstmuseum Basel, zu der Holzer auch eigene Werke beigesteuert hat.
Platz 78: Scheicha al-Mayassa bint Hamad bin Khalifa al-Thani
Parallel zur Fußball-WM der Herren ist Katar auch in Sachen Kunst auf der Überholspur. An der Spitze dieses Unterfangens steht Scheicha Mayassa, Schwester des derzeitigen Staatsoberhaupts des kleinen Emirats. Von Stararchitekten wie I. M. Pei und Herzog & de Meuron ließ sie Museen für Kunst aus der Region bauen, mit einem Budget von rund einer Milliarde Dollar (knapp dreimal so viel, wie das MoMA für Neuerwerbungen ausgibt) kauft sie jährlich westliche Kunst für die Nationalkollektion ein. Sie ist damit eine der wichtigsten Sammlerinnen weltweit.
Platz 79: Andrea Lissoni
Seit April 2020 ist der gebürtige Italiener künstlerischer Direktor des Hauses der Kunst in München, und langsam zeichnet sich ab, wie gut das funktioniert. Ausstellungen wie die der Nebelkünstlerin Fujiko Nakaya verbinden Avantgarde mit Zugänglichkeit, Publikumsschwund ist für ihn kein Thema.
Platz 80: Theaster Gates
Der Chicagoer Künstler betreibt Nachbarschaftsräume, organisiert Workshops und taucht in die afroamerikanische Geschichte ein. Sein "Black Chapel"-Thema aus dem Münchner Haus der Kunst setzte er im Sommer für den diesjährigen Londoner Serpentine Pavilion in die Realität um: in Form einer wahrhaftigen schwarzen Kapelle. Das New Museum in New York widmet dem US-Künstler derzeit die große Überblicksschau "Young Lords and Their Traces".
Platz 81: Simone Fattal
In den Gemälden und Keramiken der libanesisch-französischen Künstlerin Simone Fattal tun sich ganze Welten auf, in denen Kriege und Konflikte genauso verhandelt werden wie die Geschichte des menschlichen Schaffensdrangs. Ihre kraftvollen Werke sind abstrakt, aber gleichzeitig nah an Mythen und Poesie. Inzwischen bekommt die Arbeit der 80-Jährigen die Aufmerksamkeit, die sie verdient. 2022 war sie ein Höhepunkt der Lyon-Biennale und bekam den Rosa-Schapire-Kunstpreis.
Platz 82: Sandra Mujinga
Die kongolesisch-norwegische Künstlerin machte mit ihren großformatigen Geisterskulpturen auf der Venedig-Biennale Eindruck. Jetzt steht die Einzelausstellung zum Preis der Nationalgalerie in Berlin an, den sie verdient gewonnen hat.
Platz 83: Ugo Rondinone
Der gebürtige Schweizer war in diesem Jahr einfach überall. Auf seiner Checkliste stehen Einzelausstellungen in Venedig, Paris, Mexiko-Stadt und Frankfurt am Main, dazu kommen Ausstellungen in den Galerien, die ihn vertreten (es sind sechs). Und sogar der Manifesta 14 in Pristina schenkte er mit seinem pink gefärbten Denkmal für die längst zerbrochene jugoslawische Einheit ein prägnantes Signature-Werk.
Platz 85: Yuki Kihara
Paradiesisches Ozeanien? Yuki Kihara, die auf Samoa lebt, streitet für eine realistische Wahrnehmung südpazifischer Traditionen, Mentalitäten und Probleme. Als erste Künstlerin pazifischer Herkunft, die Neuseeland auf der Venedig- Biennale vertrat, ließ Kihara in ihrem "Paradise Camp" unter anderem ihre bunte Transgender-Community über Gemäldemotive von Gauguin herziehen.
Platz 86: The Nest Collective
Das Kollektiv aus Kenia arbeitet in den Bereichen Marketing, Mode, Wirtschaft und Kunst und lehrte uns auf der Documenta, wie die angebliche Wohltätigkeit der Altkleiderindustrie die Armut in den afrikanischen Empfängerstaaten bedingt. Wie viel ausbeuterisches Potenzial Textilien auch nach ihrer Herstellung noch haben können, hatte man dem eigenen Kleiderschrank gar nicht angesehen.
Platz 87: Sam Bardaouil und Till Fellrath
Ihr Pavillon für Frankreich galt als Löwen-Anwärter, war historisch und mutig: Zineb Sedira ließ in ihrem Beitrag auch Stimmen des algerischen Widerstands erklingen. Das Kuratorenteam, das auch die Lyon-Biennale leitete, soll den Hamburger Bahnhof umkrempeln und die Berliner Energie wieder freisetzen.
Platz 88: Jarosław Suchan
Jarosław Suchan hat als Direktor des Muzeum Sztuki in Łódź seit 2006 die polnische Kunstavantgarde gezeigt und ein internationales Niveau etabliert – bis er im April von Polens rechtspopulistischer Regierung aus seinem Amt entfernt wurde. Der Fall ist exemplarisch für die wachsende politische Einflussnahme auf den polnischen Kulturbetrieb.
Platz 89: Andrée Sfeir-Semler
Ob Etel Adnan, Akram Zaatari oder Lawrence Abu Hamdan – Künstlerinnen und Künstler der Galerie Sfeir-Semler sind überall, hinter diesen Karrieren steht eine Grande Dame aus Beirut und Hamburg. Seit Jahrzehnten setzt sie sich für Kunst aus der produktiven Region des Nahen Ostens ein, nicht nur an ihren beiden Galeriestandorten.
Platz 90: Hortensia Völckers
Sie war Gründungsdirektorin der Kulturstiftung des Bundes und hat 20 Jahre lang wichtige Akzente gesetzt – zuletzt mit dem Großprojekt "Museum Global" und mit zukunftsweisenden Programmen für den klimafreundlichen Umbau von Institutionen. Mit ihrem Abgang in diesem Herbst endet eine Ära.
Platz 91: Saâdane Afif
Den in Berlin lebenden französischen Künstler kennt man durch seine kollaborativen Werke, in denen ein Leitgedanke durch verschiedene Medien wie Musik, Gedicht oder Skulptur migriert. Dieses künstlerische Prinzip hat er nun als Kurator der Bergen Assembly übersetzt. Die Gruppenschau in der norwegischen Stadt war in diesem Herbst ein Verwirrspiel fiktiver Figuren – und damit auch ein Seitenhieb auf Identität als gerade besonders heiße Währung des Kunstbetriebs.
Platz 92: Chus Martínez
Niemand in der Kunst denkt auf Podien in Fachkreisen so intensiv, kommunikativ und ansteckend über soziale und ökonomische Gerechtigkeit nach. Wie gut, dass sie ihr Wissen als Kuratorin, Kunsthistorikerin und Leiterin des Instituts Kunst Gender Natur an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW in ihrem Brotjob täglich an sehr junge Menschen weitergibt.
Platz 93: Katharina Fritsch
Seit vier Jahrzehnten schafft Katharina Fritsch ihre lebensgroßen bis überdimensionierten Figuren, die zumeist monochrom gefärbt sind. Ehrfurchtgebietend ihr grüner Dickhäuter, der für Besucher des Zentralpavillons in den Giardini gleich im Eingang den Rüssel hob. Fritsch wurde im April in Venedig mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Platz 94: Mire Lee
Sie hat ein Monster erschaffen – oder besser: viele davon. Die Kunstwelt kann nicht genug bekommen von den schleimigen, unheimlich körperlich wirkenden Installationen der Südkoreanerin. Ihre alienhafte Tropfmaschine im Arsenale war eines der Highlights der Venedig-Biennale – auch Skulpturen können eine Begegnung der dritten Art sein.
Platz 95: Marianna Simnett
Die britisch-kroatische Künstlerin schickt sich gerade an, die Thronfolge von Marina Abramović als Königin der Schmerzen anzutreten. In ihrem Berliner Atelier spinnt Marianna Simnett ihre immersiven Erzählungen, die um Themen wie Autonomie, Kontrolle, Metamorphose und Fürsorge kreisen. Ihre große Mehrkanalinstallation "The Severed Tail" in der diesjährigen Hauptausstellung in Venedig war ein sadistisches, ziemlich bestürzendes Märchen.
Platz 96: Nil Yalter
"Exil ist harte Arbeit" – so war es auf Wänden und Plakaten in roter Schrift zu lesen. Die in Kairo geborene Künstlerin Nil Yalter muss es wissen. Ab ihrem vierten Lebensjahr bis 1965 lebte sie in der Türkei, dem Land ihrer Familie, dann ging sie ins politische Exil, heute lebt sie in Paris. Die Schaufensterarbeit "Exile Is A Hard Job" zählte zu den zentralen Werken der 12. Berlin Biennale.
Platz 97: Niklas Maak
Der "FAZ"-Redakteur schreibt nicht nur zu den interessantesten Fragen der Gegenwart, sondern machte auch als Erster auf Walter Smerlings "Kunsthalle Berlin" und den Umgang mit öffentlichen Geldern und Immobilien aufmerksam. Gerade bekam Niklas Maak in Darmstadt den Merck-Preis verliehen. In der Laudatio sagte Rem Koolhaas: "Maak weiß mehr als jeder andere, den ich kenne."
Platz 98: Raumlabor
Seine Ausstellungsarchitekturen sind brillant – wie zuletzt für die Schau "Empowerment" im Kunstmuseum Wolfsburg. Aber vor allem steht das Architekturkollektiv aus Berlin für ein interdisziplinäres Kunstverständnis, das Community-Arbeit genauso einschließt wie ökologischen Umbau von Städten – zu sehen beispielsweise auf der Manifesta 14 in Pristina, wo Raumlabor eine ehemalige Ziegelfabrik umbaute.
Platz 99: Lucia Pietroiusti
Die Verschränkung von Ökologie und Kunst ist ihr Spezialgebiet. Das setzte sie als Kuratorin an den Serpentine Galleries in London um, aber auch gemeinsam mit Filipa Ramos als Direktorin der hochgelobten achten Biennale Gherdeïna in den Dolomiten.
Platz 100: Ai Weiwei
Natürlich hat der berühmteste chinesische Künstler auch dieses Jahr wieder mit Kunstaktionen von sich reden gemacht, etwa mit einem Kronleuchterkoloss aus schwarz-gläsernen Schädeln und Knochen in den römischen Diokletiansthermen. "In Search of Humanity" war der Titel seiner großen Retrospektive in der Wiener Albertina Modern im Jahr der sich auftürmenden Krisen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, das weiß auch Ai Weiwei, der Weitersuchende.
Dieser Artikel ist zuerst in Monopol 12/2022 erschienen