Kunstvereins-Direktorin Lotte Dinse

"Der Austausch von Kunstschaffenden und Publikum ist mir wichtig"

Lotte Dinse
Foto: Neven Allgeier

Lotte Dinse

Die Direktorin des Nassauischen Kunstvereins Wiesbaden setzt auf weniger Ausstellungen mit längeren Laufzeiten und richtet den Fokus auf Dialog. Hier spricht Lotte Dinse über ihre Pläne

Frau Dinse, was wollen Sie aus dem Verein und der Altbauvilla in der noblen Wilhelmstraße machen?

Für mich ist der Kunstverein nicht nur ein Ausstellungshaus. Ich glaube, es reicht nicht aus, zu sagen "Wir haben ein tolles Ausstellungsprogramm, kommt zu uns", sondern es geht darum, die Leute anzusprechen, sie aktiv einzuladen, verschiedene Veranstaltungsformate zu initiieren und immer wieder einen Dialog zu ermöglichen. Ich setze auf weniger Ausstellungen im Jahr. Meine Ausstellungen werden eine längere Laufzeit haben, weil es mir wichtig ist, sich auch mal vertiefter mit einem Werk auseinandersetzen zu können. Meine kuratorische Praxis steht für ein bewusstes Innehalten, um ein Werk zu entdecken, vielleicht auch einmal wiederzukommen an einem anderen Tag mit Freunden, mit anderen Menschen, also Entschleunigung mit mehr Vermittlungsprogramm. Dafür haben wir einen neuen Mitarbeiter eingestellt.

Müssen Sie Zielvorgaben erfüllen, etwa bestimmte Publikumszahlen erreichen?

Wir haben als Ausstellungshäuser oder als Kulturinstitutionen immer diesen Druck. Natürlich sind die Besucher in Zahlen eine Art Legitimation für das eigene Tun. Für mich ist aber die Qualität des Austauschs wichtiger. Es müssen nicht 100 Leute da sein, damit es ein guter oder ein erfolgreicher Abend war. Ein Beispiel ist eine Veranstaltung, die sich zusammen mit der Diakonie kurzfristig ergeben hat, eine Ausstellung zum Thema Wohnungslosigkeit - auch mit betroffenen Menschen. Das war ein intensiver, berührender Abend - so war zumindest das Feedback, und das ist für mich ein Erfolg der Arbeit.

Wie wollen Sie zeitgenössische Kunst präsentieren?

Mir ist wichtig, Ausstellungen und Kunstwerke so zu inszenieren, dass das visuelle Erleben im Vordergrund steht. Dabei stellt sich die Frage, wie man die oft komplexen Themen und Zusammenhänge, die ein Werk behandelt, durch Texte und andere Medien vermittelt, ohne zu viel zu erklären oder vorzugeben. Ich möchte nicht, dass zeitgenössische Kunst mit so einer Art Beipackzettel funktioniert. Dialogische Vermittlungsarbeit ist uns ein wichtiges Anliegen. Gerade, weil zeitgenössische bildende Kunst oft immer noch als sehr elitär und Ausstellungshäuser als Elfenbeinturm wahrgenommen werden. Viele Menschen haben eine Hemmschwelle, da hinzugehen, weil sie meinen, vielleicht irgendetwas nicht zu verstehen. Diese Vorurteile möchte ich abbauen, Stichwort "community outreach", indem wir mit verschiedenen Personengruppen in der Stadt in Kontakt treten und sie einladen. Es geht darum, einen Austausch mit dem Publikum darüber zu initiieren, was wir sehen und warum wir etwas wie wahrnehmen. 

Von welchen Ihrer Erfahrungen können Sie und der Verein dabei profitieren?

Ich habe beide Seiten in der Kunstwelt kennengelernt: einerseits die der Produktion, im Künstlerhaus Schloss Balmoral in Bad Ems. Das ist ein Atelierhaus für Künstler und Künstlerinnen aus aller Welt, die ich dort bei ihrer Produktion begleitet und betreut habe. Da ging es um den Entstehungsprozess. Es war für mich enorm wichtig, einen Einblick zu bekommen, was dieser Beruf mit seinen praktischen und prekären Dimensionen bedeutet. Andererseits ging es bei meiner kuratorischen Arbeit in verschiedenen Ausstellungshäusern um die Präsentation der Kunst. Es ist ein Privileg, so unterschiedliche Häuser kennengelernt zu haben; von der Galerie im Taxispalais, heute Kunsthalle des Landes Tirol in Innsbruck, über die Kestner Gesellschaft in Hannover bis zum Kunsthaus Göttingen. Gerade die Kunstvereine sind eine superspannende Existenzform, weil sie ein freies, agiles, schnelles Handeln erlauben, sodass man flexibel bestimmte Themen aus Kunst und Gesellschaft aufgreifen und kurzfristiger planen kann im Vergleich zu Museen. 

Können Sie dazu ein Beispiel ihrer bisherigen Arbeit für den NKV nennen?

Eine große Rolle hat die schon genannte Kooperation mit der regionalen Diakonie in Wiesbaden gespielt. Zugehen auf Menschen, sie kennenlernen und  fragen, wo es Gemeinsamkeiten in unserem Tun gibt, ob wir was zusammen auf die Beine stellen können – dafür brenne ich total in unserer Gesellschaft, die so zunehmend auseinanderdriftet.

Sie haben Bilder des Fotografen Neven Allgeier ausgestellt, die auch mit ihrer Schönheit wirken. Was steckt dahinter?

Ich finde das Wort "schön" sehr wichtig, weil es im Bereich der zeitgenössischen Kunst oft so verpönt ist. Ich finde die Bilder schön, und das ist auch total legitim. Sie haben gleichzeitig eine Intensität und Vielseitigkeit, die man erst auf den zweiten Blick richtig entdecken kann. Es sind Porträts von jungen Menschen, die bestimmten Subkulturen rund um den Globus angehören und sich mit unterschiedlichen Identitäts- oder Geschlechtsentwürfen beschäftigen. Das stellt er in einen Kontext mit Landschaftsaufnahmen. Diese Bilder haben für mich eine enorme suggestive Qualität, weil die Gegenüberstellung von einer Person und einer Landschaft nie einen kausalen Zusammenhang hat. Er verfolgt keinen dokumentarischen Ansatz, was man zunächst annehmen könnte, sondern er führt einen auf eine Fährte, die immer wieder gebrochen wird. Ich finde es spannend, was das mit unserer Wahrnehmung oder unseren Sehgewohnheiten macht, weil man ja bei Fotografie immer diesen Wirklichkeitsbezug herstellt, die Bilder aber sehr artifiziell sind – etwa in der Art, wie das Licht dort scheint. Das hat wiederum oft etwas ganz Romantisch-Positives und wirkt mit der Sonnenuntergangsstimmung schon fast kitschig, und dennoch bleibt da immer dieser Kippmoment.

Und was stünde hier auf einem Beipackzettel, den Sie ja nicht geben mögen – also wie sehen Sie persönlich seine Bilder?

Ich sehe eine sehr zukunftsgerichtete Welt, die gar nicht so leicht lesbar ist. Die Jugendlichen kommen aus einer Generation vor mir und sind in ihrer Kleidung und in der Art, wie sie sich schminken, fast fremde Wesen, von denen man gar nicht weiß, in welcher Zeit sie existieren, wo sie herkommen und warum sie so aussehen. Ich finde, dieses Werk wirft viele Fragen auf. Es wirkt auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich - lotet dabei aber offensiv die ästhetischen Grenzen zwischen Werbefotografie, Modefotografie und Dokumentarfotografie aus.

In welchem Verhältnis zur sogenannten Wirklichkeit betrachten Sie zeitgenössische Kunst?

Kunst hat immer viel mit der Welt draußen, mit dem sozialen Kontext zu tun. Allein deshalb, weil viele künstlerische Positionen sich mit konkreten aktuellen gesellschaftlichen Themen und Entwicklungen auseinandersetzen. Die Akteure und Akteurinnen aus dem sozialen Umfeld mit einzubeziehen, finde ich sehr ergiebig. Daher muss ich wieder diese Diakonie-Geschichte erwähnen. Wir hatten bei dem Projekt "Moving Boxes", das sich mit dem Thema Wohnen beschäftigt hat, überdimensionale Pappkartons als ästhetisches Set, innerhalb dessen sich neue architektonische Formen und Konstellation ergeben haben als ein Spiel mit dem Material. Als dann die Diakonie das Thema Wohnungslosigkeit eingebracht hat, sagte ein Mitarbeiter: "Das Material Pappe hat noch eine andere Dimension. Unsere Klienten und Klientinnen sind froh, wenn sie eine Pappe haben, um so auch schlafen zu können." Diesen Perspektivwechsel haben wir in einer gemeinsamen Veranstaltung zur Diskussion gestellt. Sämtliche Materialien, die für die Ausstellung angeschafft wurden, haben wir anschließend übrigens an soziale Einrichtungen abgegeben. An diesem konkreten Beispiel sieht man, in welcher Beziehung Kunst und Wirklichkeit stehen.

Sie brennen, wie Sie sagten, für den gesellschaftlichen Dialog im Kunstbetrieb. Gab es da schon Ärgernisse für Sie?

Dass die Kulturhaushalte immer wieder gekürzt und Häuser geschlossen werden, dass die Kulturpolitik an vielen Stellen das kulturelle Leben abschneidet. Es ist immer so ein Riesenkrampf, überhaupt Gelder zur Verfügung zu haben. Viele Häuser werden mit öffentlichen Förderungen und Einnahmen verschiedenster Art gerade so am Leben erhalten. Das künstlerische Programm kommt nur zustande, weil es durch Drittmittel finanziert ist. Ich glaube, viele Entscheidungsträger verstehen nicht, dass es viel Arbeit macht, Gelder zu akquirieren und fundierte Konzepte einzureichen. 

Welche Pläne haben Sie noch in diesem Jahr?

Bald eröffnen wir die erste institutionelle Einzelausstellung von Martin La Roche in Deutschland. Sie läuft auf zwei Etagen bis Mitte Juni. Im Sommer machen wir Betriebsferien, die wir auch als Umbauphase nutzen, um im Erdgeschoss mehr Platz zu schaffen für Arbeitsplätze und Materialien. Ab September geht es weiter mit einer Einzelausstellung einer Videokünstlerin.