Regisseur Wiseman über "National Gallery"

"Grundlegende Erfahrungen"

Er ist einer der renommiertesten Dokumentarfilmer und mit inzwischen 84 Jahren auch einer der ältesten. In mehr als 40 Filmen hat der US-Amerikaner Frederick Wiseman detailliert Institutionen wie das Ballett der Pariser Oper („La Danse“), die US-Eliteuni („At Berkely“) oder den Nachtclub „Crazy Horse“ portraitiert. Auf dem Filmfest in Cannes hat er jetzt seine neueste Langzeitstudie vorgestellt: „National Gallery“ über das Kunstmuseum in London, das als eine der weltweit wichtigsten Gemäldesammlungen gilt. Eine inspirierende Auseinandersetzung mit der Rolle von Kunst und Museen, die nicht zuletzt Lust macht, gleich einen Flug nach London zu buchen. Monopol hat mit dem Filmemacher gesprochen.

Was war zuerst da: der Wunsch, einen Film über ein Museum zu machen oder konkret einen über die National Gallery?

Ich bin kein Experte, aber es gibt weltweit vielleicht zehn oder zwölf wirklich große Museen wie der Prado in Madrid, der Louvre in Paris, die Albertina in Wien oder die Eremitage in Sankt Petersburg. Und die National Gallery in London ist eines davon. Und wie es der Zufall so wollte, machte ich die Bekanntschaft einer Mitarbeiterin der National Gallery und erzählte ihr von meinem Idee. Sie stellte den Kontakt zum Leiter des Museums her und er war sofort begeistert. Es ist ein großartiges Museum und zugleich nicht so riesig wie Prado, Louvre oder das Metropolitan Museum in New York. Und ihre Sammlung fokussiert auf Gemälde, mit Meisterwerken vom 13. Bis Ende des 19. Jahrhunderts sie haben keine Skulpturen, Objekte oder Videokunst. Das machte es einfacher, der Fülle des Materials Herr zu werden. Es war schon schwer genug, der National Gallery in knapp drei Stunden Film gerecht zu werden. Gedreht habe ich in 12 Wochen über 170 Stunden Film. Und danach habe ich 14 Monate an dem Film geschnitten. Erst im Schnitt finde ich die Form des Films. Wie ein Bildhauer die Statue unter dem Stein findet, finde ich den Film im Rohmaterial.

Sie zeigen in diesen drei Stunden verschiedenste Aktivitäten des Museums, von der Kunstvermittlung im Saal über strategische Boardmeetings bis hin zu den komplexen Restaurierungsarbeiten alter Gemälde. Hatten Sie zu allem ungehindert Zugang?

Ich würde nie einen Film machen, wenn ich das nicht hätte. Ich respektiere natürlich, wenn jemand nicht vor die Kamera will, was nicht vorkam, aber prinzipiell kann ich alle Aktivitäten einer Institution filmen und so auch hier.

Und die scheinen alle sehr zivilisiert und höflich abzulaufen, es gab nie einen Konflikt zu sehen ...

Die Gemälde von Meistern wie Turner oder Rembrandt selbst zeigen doch schon die grundlegendsten Aspekte menschlicher Erfahrung – Krieg, Mord, religiöser Hass, Gewalt jeder Art – dagegen war jeder interne Konflikt, den es vielleicht hinter den Kulissen der National Gallery gab, ziemlich zahm.

Wie viel Vorbereitung ist für eine solche Dokumentation notwendig?

Viel kann man da nicht planen. Ich wusste, dass es jeden Mittwochmorgen um 10 Uhr eine Vorstandssitzung gibt, aber ansonsten bin ich nur jeden Tag durch das Museum gewandert auf der Suche nach interessanten Momenten. Und Mitarbeiter sagten mir Bescheid, wenn es etwas passierte. Sekretärinnen sind da unerlässliche Informationsquellen. Und ich war in ständigen Kontakt mit der Assistentin des Museumsleiters, sie informierte mich über seine Termine. Man muss sich Leute suchen, die mehr über den Ort wissen als man selbst und einem Tipps geben, so funktioniert das bei jedem meiner Filme.

Was haben Sie durch den Film selbst über Kunst und Kunstvermittlung gelernt?

Das ist im Film zu sehen. Das soll jetzt keine schnippische Antwort sein, aber wenn ich diese Frage in ein paar Sätzen beantworten könnte, hätte ich den Film nicht drehen sollen.

Es geht auch darum, wie und unter welchen Umständen wir Kunst betrachten. Wie und von wem soll Ihr Film gesehen werden?

Ich denke nie an ein Publikum. Wenn man das tut, schwächt man das Material, um möglichst viele Zuschauern zu erreichen. Daran habe ich kein Interesse. Ich bin mein Publikum und ich hoffe, wenn es mich interessiert, tut es das auch andere.

Besonders faszinierend beim Blick hinter die Kulissen sind die Restaurierungsprozesse.

Mich hat das auch sehr interessiert. Die Menschen, die damit befasst sind, müssen ein außergewöhnliches künstlerisches Selbstvertrauen haben, weil sie Farbe auf große Meisterwerke auftragen und es dadurch verändern. Sie müssen technisch erstklassig arbeiten und zugleich ausgezeichnete Kunsthistoriker sein. Und zugleich konnten sie das vor der Kamera auf sehr verständliche Art erklären, das war ein Glücksfall für den Film. Ich fand es sehr spannend zu sehen, wie diese Menschen Worte benutzen, um über Kunst zu sprechen und Kunst zu vermitteln.

Gehen Sie auch privat in Museen?

Sehr oft sogar. Aber ich habe kein Fachwissen über Malerei, ich bin ein interessierter Amateur.