Tris Vonna-Michell

Auf der Suche nach dem Wachtel-Ei

Der britische Künstler Tris Vonna-Michell übt sich in der Lüneburger Halle für Kunst als Drucker - und im Jeu de Paume Paris am produktiven Aneinandervorbeireden.

 

Die Lüneburger Halle für Kunst als temporäre Druckanstalt. Der 1982 geborene britische Konzeptkünstler und Spoken-Word-Performer Tris Vonna-Michell hat gleich in der Eingangszone seiner Ausstellung „Capstans“ eine 40 Jahre alte Heidelberger Druckmaschine vom Typ GTO 46 aufgebaut. Fachkundig bedient wird der ebenso laute wie beeindruckend präzise vor sich hinratternde Druck-Oldtimer von einem jungen Mann, der hier während der gesamten Laufzeit der Schau jeden Tag genau eine Buchdoppelseite produzieren wird. Besucher dürfen einzelne Blätter mitnehmen. Am Ende werden die fertig gedruckten Seiten als Inserts für Vonna-Michells nächstes Künstlerbuch verwendet. Doch darauf kommt es vielleicht gar nicht so sehr an. Die Kunst des jungen Briten, dessen ungewöhnlicher Name in letzter Zeit immer häufiger im internationalen Ausstellungsbetrieb auftaucht, ist weniger ergebnisorientiert als prozesshaft.

 

Vonna-Michell, Markenzeichen Waldschratfrisur und Vollbart zu klassisch eleganter Garderobe, ist ein Geschichtenerzähler par excellence. Konstruktion und Dekonstruktion von Handlungssträngen gehen dabei allerdings Hand in Hand. Aus belanglos wirkenden Fundstücken, Fotografien, extrem verlangsamten Diaprojektionen und manchmal auch aus Tondokumenten, die auf seinen atemlos gesprochenen Texten basieren, „strickt“ Vonna-Michell narrative Gewebe voller historischer, kunsthistorischer und persönlicher Referenzen. Was dabei entsteht, ist eine anspielungsreiche, multimediale und letztlich aber offene und ambivalente Erzählstruktur voller Fakten und Fiktionen, Plausibilitäten und Widersprüchen. Fragen werden aufgeworfen nach der Glaubwürdigkeit geschichtlicher Überlieferung, nach Schönung und Fälschung, Wahrheit und Lüge. Was ist wirklich geschehen? Was nur Interpretation der Nachgeborenen - oder des Künstlers?

 

In Lüneburg verwebt Vonna-Michell etliche frühere Arbeiten zu einer neuen Zusammenstellung, bei der zwei parallel laufende altertümliche Diaprojektoren mit Karussell-Magazin im Mittelpunkt stehen. Jeweils 30 Sekunden lang werden Bilder von Objekten, mit Werbung bedruckten Telefonkarten und Fragmente aus einem längeren Text des Künstlers projiziert, die so ein assoziatives Erzählgerüst bilden. Sein stakkatohafter, atemlos vorgetragener Sprachduktus war hier leider nur während einer Performance akustisch erlebbar, die am Eröffnungsabend stattfand.

 

Ganz anders in Paris. Hier zeigt Vonna-Michell im Jeu de Paume das beeindruckend vielschichtige und nuancenreiche künstlerische Ergebnis einer jahrelangen Recherchetätigkeit. Neben einer Diaschau kommt der Betrachter auch in den Genuss, Vonna-Michells temporeichen mündlichen Ausführungen per Kopfhörer zu lauschen. „Finding Chopin: Endnotes 2005-2009“ , so der Titel der Ausstellung, ist eine materialreiche Installation: das Protokoll einer Suche, die am Ende sogar zum Erfolg geführt hat.

 

Gesucht wurde Henri Chopin (1922-2008), ein französischer Pionier der Spoken-Word-Performance, des Schreibmaschinengedichts und der konkreten Poesie. Angestachelt von der Aussage seines Vaters, genau dieser Henri Chopin habe einst als Nachbar der Familie im britischen Southend on Sea gelebt, begibt sich Vonna-Michell auf verschlungenen Umwegen auf die Suche nach dem ominösen Nachkriegsavantgardisten. Er besucht Verwandte und Weggefährten, wandert durch Pariser Straßen, hebt angebliche Beweisstücke auf und sammelt ausgeblasene Wachtel-Eier, die er in einer Pralinenschachtel aufbewahrt. Angeblich die Lieblingsspeise des Gesuchten - Vonna-Michell plant, ihm die Schachtel eines Tages zu überreichen.

 

Zu einer denkwürdigen Begegnung der beiden kommt es schließlich am 15. Dezember 2007 in Brüssel. Chopin trat hier zum letzten Male mit einer seiner Performances auf einer Theaterbühne auf. Am nächsten Morgen treffen sich die beiden in einem Café. Der 85-Jährige Chopin, der zu früher Stunde schon Rotwein bestellt hat, redet drei Stunden ununterbrochen auf Französisch auf den jungen Vonna-Michell ein. Kaffeetrinker Vonna-Michell, des Französischen leider weitgehend unkundig, antwortet ihm zwölf Minuten lang auf Englisch. Das Geschenk, die ausgeblasenen Wachtel-Eier, hat Vonna-Michell zu Hause vergessen. Die Schachtel ist jetzt, verborgen unter einer dicken Glasscheibe, im Jeu de Paume zu sehen. Zu einer Wiederbegegnung und einem neuen Versuch des produktiven Aneinandervorbeiredens kam es dann leider nicht mehr: Chopin starb drei Wochen später am 3. Januar 2008 in Paris.

 

Halle für Kunst e.V. Lüneburg, bis 20. Dezember 2009. Jeu de Paume Paris, bis 17. Januar 2010.