Neoconcretismo in der Akademie der Künste

Geometrie außer Rand und Band

Keine Adaption, sondern eine Transformation der europäischen Moderne gelang dem brasilianischen „Neoconcretismo“ ab den späten 50er-Jahren. Der sinnliche Ansatz wirkt auf das hiesige Publikum noch immer ungewöhnlich. Prompt wurde der Titel der Ausstellung, die später im Museu de Arte Moderna in Rio gezeigt wird, falsch übersetzt: Statt „Das Verlangen nach Form“ müsste es heißen: „Das Verlangen DER Form“. Sie lebt nämlich, die Form, wie von einem inneren Drang mobilisiert.

Die „Bichos“ („Kreaturen“) von Lygia Clark sind Paradebeispiele für die außer Rand und Band geratende Geometrie. Ab 1960 verband die Künstlerin Metalldreiecke und andere Formen mit Scharnieren. Wer den Klappkörper zur Hand nahm, wunderte sich über die eigenwillige Reaktionsweise der Kunstwesen. In Berlin sind sie leider unberührbar in einer Vitrine untergebracht. Wie viele Erscheinungsformen jedes Bicho sind möglich? „Ich weiß es nicht, Sie wissen es nicht“, pflegte ihre Schöpferin zu antworten, „aber ES weiß es“.

Die 60er-Jahre-Avantgarde Brasiliens emanzipierte nicht nur die Form. Auch der Betrachter wurde aktiviert, durfte Benutzer sein. Distanz – ein Fremdwort. Man fühlt es bereits im Entrée der Ausstellung, wo die Reliefs von Hélio Oiticica wie Flugobjekte frei im Raum schweben, spürt es angesichts der Quader und zylindrischen Formen, die auf einem Videomonitor das „Neokonkrete Ballett“ der Künstlerin Lygia Pape tanzen. Die zwei Lygias zählen neben Mira Schendel zu den zentralen Figuren des Neokonkretismus. Dass derart viele Künstlerinnen an die Spitze eine Bewegung vordringen konnten, ist ein seltender Fall in der Kunstgeschichte.

Die Schau ist herumgebaut um ein Ausstellungssegment zu Brasilia. Wer die Modelle und Zeichnungen des Hauptstadt-Architekten Oscar Niemeyer betrachtet, die geschwungenen Linien und die skulpturale Gesamtanlage, ahnt die Bedeutung der Kapitale für die Avantgarde. Brasila wurde zum Fanal. Die Tage des rationalistisch geprägten, staatlich geförderten „Concretismo“ waren bald gezählt.

Weil die Satzung der Akademie Zeitgenössisches fordert, werden die historischen Werke von Arbeiten jüngerer Künstler ergänzt: Iole de Freitas, Carlos Bevilacqua, Waltercio Caldas und Pablo Lobato. Sie sind Erben der Neokonkreten, weil auch ihre Kunst Wahrnehmung und Denken in Bewegung setzt. Mit dabei: Carla Guagliardi, die Holzlatten auf große weiße Ballons lehnt. Wenn ihnen die Luft ausgeht und die Latten sich verschieben, wird das Werk „Verso“ sich gehörig verändert haben. Doch nur ES weiß genau, wie.

"Das Verlangen nach Form – O Desejo da Forma, Neoconcretismo und zeitgenössische Kunst aus Brasilien", bis 7. November 2010