Kittelmanns Klassiker

In Berlin, in Deutschland und in der übrigen Welt sind in den Jahren seit 1920 viele Tausende kranker Menschen durch Berliner Leitungswasser von ihren Krankheiten geheilt worden. Das Berliner Leitungswasser hat die wunderbare Eigenschaft, die Zuckerkrankheit zu heilen. Das Berliner Leitungswasser heilt aber auch Magenkrankheiten, Blasenkrankheiten, Nierenkrankheiten, Katarrhe der Harnwege und der Atmungsorgane.“ – „Wie das?“ fragt sich der erstaunte Leser. Die Antwort folgt sofort: „Man muss es nur in Flaschen füllen und die Flasche nicht unter 40 Pfennigen hergeben.“


Die „Geschichte der wunderbaren Heilungen durch Berliner Leitungswasser“, geschrieben von dem Journalisten Walter Kiaulehn, erzählt mit leiser Ironie von dem Berliner Unternehmer Karl Hartwig, dem es gelang, aus Kranwasser Geld zu machen. Sie findet sich in dem Band „Propheten in deutscher Krise. Das Wunderbare oder die Verzauberten“, den Rudolf Olden herausgegeben hat. Olden war Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, verteidigte nebenbei als Anwalt Kurt Tucholskys Verleger Carl von Ossietzky im Prozess um das „Soldaten sind Mörder“-Diktum.
Sein Band über die „Propheten in deutscher Krise“ erschien 1932, kurz bevor er 1933 ins Exil gehen musste. Allein das Cover der beim Rowohlt Verlag Berlin erschienenen Originalausgabe ist bemerkenswert – mit seiner an John Heartfield erinnernden Collage auf damals sehr seltenem Golddruck. Im Klappentext schreibt Olden: „In Zeiten wirtschaftlicher Krise steigert sich das Bedürfnis des Menschen zu glauben, und – ‚das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind‘ ... So ist denn auch unsere Gegenwart voll von Zauberern und Verzauberten aller Arten und Klassen, und bei vielen der merkwürdigen neuen Propheten ist es schwer, Dämonie der Persönlichkeit und bewusste Hochstapelei zu unterscheiden.“


Von dem dämonischsten aller Zauberer dieser Zeit, von Adolf Hitler, ist in diesem Buch mit keinem Wort die Rede – Olden hält sich eher an Okkultisten, Reformer des Liebeslebens oder eben an den Berliner Wasserverkäufer Hartwig. Trotzdem ist klar, worauf Oldens Zeitdiagnose hinausläuft. Nicht zuletzt schreibt er vom Boom und von Spekulationsblasen, die dem Wunderglauben vorausgingen. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind offensichtlich. Ich bin gespannt, wer jetzt die neuen Zauberer sein werden.

 

Udo Kittelmann ist Direktor der National­galerie Berlin

und schreibt jeden zweiten Monat in Monopol

 

Rudolf Olden (Hg.): „Propheten in deutscher Krise.

Das Wunderbare oder die Verzauberten“. Rowohlt Verlag Berlin, 1932.

Zu beziehen über das Zentrale Verzeichnis Antiquarischer Bücher, www.zvab.de