Chris Dercon

„Vergesst die Idee einer Leitkultur!“

Mein Lieblingsstück an meinem neuen Arbeitsplatz, der Tate Modern, ist natürlich ein ‚Bólide‘ von Hélio Oiticica, den die Tate in den vergangenen Jahren erworben hat. Ich habe Hélios Werke in den späten 80ern am New Yorker P.S.1 und in den 90ern am Witte de With in Rotterdam ausgestellt, aber das haben bloß ein paar eingefleischte Fans mitgekriegt. Die europäische Kunstwelt dachte mehrheitlich, ich sei einfach bloß ein Verehrer von allem, was irgendwie brasilianisch ist.

Dabei nimmt Oiticica einen ganz besonderen Platz in der Entwicklung der Moderne ein. Zusammen mit anderen Brasilianern wie dem Architekten Oscar Niemeyer oder dem Sänger Caetano Veloso hatte er eine Lücke gefunden und füllte eine Leerstelle innerhalb des Modernismus: Er entwickelte eine einheimische Form davon, er verband das Lokale mit dem Internationalen. Doch es sollte einige Zeit vergehen, bis wichtige Häuser damit begannen, Hélios Schaffen zu präsentieren und zu sammeln.

Mit anderen Worten: Ich bin sehr glücklich, an einem Museum sein zu dürfen, das andere Spielarten der Moderne genauso ernst nimmt wie seine eigene. Viele Institutionen haben damit immer noch Probleme. Ich erinnere mich gut, wie wir Amrita Sher-Gil im Haus der Kunst und in der Tate zeigten und viele Kollegen tatsächlich fragten, ob ich dafür von der indischen Regierung bezahlt worden wäre. Auf unsere Schau arabischer Kunst in München gab es ähnliche Reaktionen.

Mein Spitzname in deutschen Museumskreisen war ja lange ,der Unesco-Vertreter‘. Ich bin stolz darauf. Und ich glaube, dass viele Künstler, Kuratoren und Kritiker nur schwer die fixe Idee einer ,Leitkultur‘ verdauen können: Was sie alles anstellen kann und mit ihnen anstellt!

Die Tate Modern hat nicht nur ein Komitee zum Kauf nord- und südamerikanischer Kunst, sondern auch eines für die des Nahen Ostens, ein weiteres für Asien und noch eines für Afrika. Ich werde also nicht nur durch die modernen oder zeitgenössischen Galerien und Sammlungen in Berlin-Mitte spazieren, sondern auch durch Addis Abeba und Ahmedabad."

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