Als die Mailänder Illustrierte „Successo“ (Erfolg) im Sommer 1959 den Schriftsteller und späteren Filmregisseur Pier Paolo Pasolini beauftragte, die gesamte Küste Italiens zu bereisen, um an den Stränden das Freizeit- und Urlaubsverhalten seiner Landsleute zu analysieren, kam dabei viel mehr heraus, als eigentlich vorgesehen. Pasolini hielt sich zwar an die Vorgaben des Magazins. Seine Aufzeichnungen sind aber vor allem eine Bestandsaufnahme brachialer gesellschaftlicher Umwälzungen, durch den Wandel eines agrarisch geprägten Landes zur Industrienation. Ende der 50er- Jahre boomte eben auch Italien. Es sind außerdem Skizzen, poetische AperÇus, welche die Themen seiner Romane und Filme wieder auf- und vorwegnehmen. „La lunga strada di sabbia“, so der Originaltitel des Reisetagebuches, ist jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erschienen, bebildert mit Fotografien, die an das Kino des italienischen Neorealismus erinnern.
Pasolini startet im Juni und legt von San Remo bis Triest in einem Fiat Millecento gut 3000 Kilometer in drei Monaten zurück. Entlang der Mittelmeerküste bis nach Neapel findet er ein noch weitgehend intaktes Leben vor. Er trifft Freunde wie den Schriftsteller Alberto Moravia in Fre-gene bei Ostia oder Luchino Visconti, der seine Sommer in Ischia verbringt und ihn über die Insel führt. Hier stellt Pasolini allerdings schon fest: „Tja, Ischia ist entdeckt, aber die Inselbewohner wissen es zum Glück noch nicht.“
Das letzte Kapitel führt zu den Badeorten der Adria, die schon ganz auf die Bedürfnisse des Massentourismus eingestellt sind. Er notiert: „Die ersten zweisprachigen Strände. Sämtliche Schilder auf Italienisch und auf Deutsch: Bagnino–Bademaister.“ Für Pasolini ein Albtraum. Doch von der Strecke von Neapel bis fast nach Sizilien schwärmt er: „Der ganze Süden vor mir.Das Abenteuer beginnt.“ Den Weg nach Sorrent und die Ankunft in Ravello beschreibt Pasolini als die „zwei schönsten Stunden der ganzen Reise“. Sie gehören für ihn „zu den schönsten meines Lebens “. Hier stimmt alles: Landschaft, Lokalkolorit, die Selbstbestimmtheit der Leute, ihre Bindung an Traditionen, noch unangetastet und ungestört von den großen Umbrüchen. Auch wo er Rückständigkeit vorfindet, urteilt er immer mit Empathie. Wieder unterwegs nach Norden, schreibt er: „Lebe wohl, Süden, unermesslicher Kafarnaum, Getümmel der Armen, der Diebe, der Hungrigen und der Sinnlichen, unverfälschter und geheimnisvoller Speicher des Lebens ...“
Das Tempo, mit dem sich Italien verändert, beklagt Pasolini als Epochenriss und Abgrund. Erstaunlich ist, wie er diesen Verlust überwindet und zu einer Sprache und Bildern findet, die die italienische Kultur erneuert haben. Er selbst sieht sich als „eine Kraft der Vergangenheit“ – und zugleich „moderner als jeder Moderne“. Wie aus solchen Gegensätzen große Kunst entsteht: nachzulesen in diesem wunderbaren Buch.
Pier Paolo Pasolini: „Die lange Straße aus Sand“. Aus dem Italienischen von Christine Gräbe und Annette Kopetzki. Edel Books, 128 Seiten, 36 Euro