Christoph Keller in Berlin

Ratio versus Rausch

"Wer nichts zu schaffen hat, dem macht das Nichts zu schaffen." Würde man Nietzsche Glauben schenken, wäre Christoph Keller ohne Beschäftigung. Einer, der aus Langeweile nach irgendetwas strebt, der Komplikationen fordert – und im Nirgendwo danach sucht. In seiner aktuellen Ausstellung in Berlin untersucht der in Freiburg geborene Künstler nämlich: das Nichts. "Small Survey on Nothingness" heißt die Schau, die in dem der Verbindung von Kunst und Wissenschaft gewidmeten Kunstraum der Schering Stiftung zu sehen ist.

Auf den ersten Blick gibt Kellers "kleine Studie über das Nichts" tatsächlich nicht viel her: ein schwarzer Raum, klein und hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt, zwei Videos und ein in der Mitte platzierter, beleuchteter Sockel. Darauf eine mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllte Flasche und eine Maske. "Das ist Ether", flüstert die Stimme der Stiftungsmitarbeiterin irgendwo aus dem Nichts, "wurde früher als Narkosemittel verwendet“. Ob es probiert werden darf? "Klar, auf eigene Verantwortung“, wirft die Mitarbeiterin in die Stille.

Betäubung von damals. Als sich vor allem die Iren und die Deutschen im 19. Jahrhundert daran berauschten, weil Alkohol zu teuer war. Auch die Avantgarde entdeckte den bewusstseinsverändernden Stoff für sich. "Ich bin seit einiger Zeit ethersüchtig und vollkommen auf dem Hund“, gestand sich die Berliner Kabarettistin Emmy Hennings einst ein. Der Stoff hat nämlich üble Nebenwirkungen, was schließlich erkannt wurde. Damit sank die Popularität des – nunmehr als Gift eingestuften und nicht mehr frei erhältlichen – Ethers. Doch was hat all das mit Kellers Untersuchung des Nichts zu tun?

Das sechsminütige Video, auf die Wand rechts im Raum projiziert, bringt Licht ins Dunkel. Und verknüpft das Rauschmittel Ether mit der aus der Physik bekannten hypothetischen Substanz Äther. Der Film zeigt den 1976 geborenen Christoph Keller, wie er lässig in einen runden Raum hineinschlendert. Vor einer in der Mitte aufgebauten Apparatur, die in ihrer Propellerform gleich abzuheben scheint, hält er inne. Es ist der originalgetreue Nachbau eines physikalischen Experiments, mit dem 1881 nachgewiesen werden sollte, dass Äther Trägermedium für Licht sei. Diese Annahme erwies sich allerdings als falsch, woraus Einstein die These postulierte, dass sich Licht im leeren Raum stets mit einer vom Körper unabhängigen Geschwindigkeit fortbewege. Damit war die Relativitätstheorie geboren. Und der Äther hatte seinen Platz in den Naturwissenschaften verloren.

Es gleicht einer Aufforderung zum Wettstreit, wenn Keller im Video dann mit süffisantem Lächeln eine Etherflasche inklusive Maske aus seiner Jackentasche kramt. Ratio versus Rausch. Die Physikapparatur, den vernünftigen Kontrahenten, stets im Blick, beginnt Keller mit seiner Disziplin: Ether auf die Maske träufeln, Maske zum Gesicht führen und langsam einatmen. Mal kürzer, mal intensiver, die Augen stets geschlossen. Der Rausch macht sich bemerkbar. Keller schnauft, gleichsam lustvoll und entgeistert. Die Kamera fährt zurück, will die Bewusstseinsveränderung im Ganzen einfangen, denn er beginnt zu wanken. Kurz vor dem Sturz scheint er sich zu beherrschen, mit größter Anstrengung reißt er die Augen auf, holt sich in die Realität zurück und muss schmunzeln.

Mit dieser Bewusstseinsveränderung reflektiert Keller den wissenschaftshistorischen Bedeutungsverlust des Äthers in den Naturwissenschaften. Denn erst mit dem Verschwinden des Äthers aus der Physik wurde die rauschfördernde Substanz von der künstlerischen Moderne freudig begrüßt. In der zweiten Videoarbeit, die den Titel der Ausstellung trägt, verknüpft er den Äther mit dem Nichts. Gezeigt werden Interviews, die der Künstler mit Physikern, Philosophen und Kulturwissenschaftlern führte. Eine transdisziplinäre Zusammenstellung, die von der griechischen Mythologie über den kabbalistischen Tzimtzum (Gott hat die Welt aus dem Nichts erschaffen) in der Quantenphysik endet. Dabei wird der Äther mit dem Higgs-Boson verglichen, dessen erwiesene Existenz die Theorie bestätigt, dass das Nichts Voraussetzung für alles Existierende in diesem Universum ist.

Mit bemerkenswert wenigen Mitteln schafft Christoph Keller die Eröffnung von Gedankenräumen, in denen man sich schnell verliert. Relativitätstheorie, Quantenphysik, kabbalistischer Tzimtzum. Der Kopf dröhnt. Und dieser beharrliche Ether dringt immer weiter ein.

"Christoph Keller: Small Survey on Nothingness", Schering Stiftung, bis 4. Oktober