Krypto-Kunst, NFTs und die "Power100"

Science-Fiction für einen sterbenden Planeten (2)

Jeff Bezos, Gründer von Amazon und des Weltraumtourismus-Unternehmens Blue Origin, hält während einer Pressekonferenz eine Fliegerbrille, die der US-Flugpionierin Earhart gehörte
Foto: Tony Gutierrez/AP/dpa

Jeff Bezos, Gründer von Amazon und des Weltraumtourismus-Unternehmens Blue Origin, hält während einer Pressekonferenz eine Fliegerbrille, die der US-Flugpionierin Earhart gehörte

NFTs sind nur der Vorgeschmack auf Weltraumträume, in denen die Erde nicht mehr vorkommt. Ein Jahresrückblick von Oliver Koerner von Gustorf, Teil 2 

Die Top-100-Rankings von Kunstmagazinen waren schon immer zwiespältig und bereiten auch den Redaktionen, die sie zusammenstellen, Kopfzerbrechen. Jeder weiß, dass sie völlig subjektiv und willkürlich sind, eine Mischung aus Meinung, Markt und Selbstdarstellung, die vor allem auch zeigen soll, wie informiert und gut vernetzt das Magazin selbst ist, welche Deutungshoheit es besitzt. Nicht ohne Grund wurde dieses Magazin "Monopol" genannt. Das stammt noch aus den anbrechenden 2000ern, vor der Finanzkrise, als man tatsächlich noch die Idee hatte, es sei toll, Monopole zu haben, auch wenn das bedeutet, dass alle Konkurrenten auf diesem Gebiet platt gemacht worden sind. Monopol, altgriechisch "Alleinverkauf", lässt keine Diversität zu. Der Titel war natürlich auch ironisch gemeint, aber in ihm schwangen der Hype und die Goldgräberstimmung des sich zunehmend globalisierenden Kunstmarkts mit.

Etwa Anfang der 2000er tauchten auch international die Ranking-Listen auf. Das Ganze wird stets heruntergespielt. Ach, ist ja eigentlich Blödsinn, har, har,  aber wir machen es, weil das Publikum es will und erwartet, und es verkauft sich. Und wir nutzen das auch als Wunschliste und pushen gute Leute oder Ideen, indem wir einfach behaupten, sie wären superrelevant.

Und so wurde also über Dekaden hinweg jedes Jahr dieser monolithische, hierarchische, ziemlich patriarchale und weiße Weihnachtsbaum geschmückt, der eigentlich schon völlig vertrocknet ist, und etwa soviel "Vision" hat wie Melania Trumps Augen. Doch langsam deckt der Schmuck nicht mehr die Widersprüche des Systems zu. Zu Recht fragt Ben Davis, derselbe "Artnet News"-Redakteur, der sich schon die Bilder von Beeple genauer angeschaut hatte, warum "ArtReview" die wirklich Mächtigen im Kunstbetrieb, nämlich die Auktionshäuser und Power-Händler, bis auf einige Ausnahmen wie David Zwirner oder Cameron und Tyler Winklevoss, und die Investoren der NFT-Plattform Nifty Gateway, fast völlig ausgelassen hat. Wie kommt es, fragt Davis, dass diese Liste nach der fliegenden NFT-Katze auf Platz 2 von der US-Anthropologin Anna Tsing als zweitmächtigster Person angeführt wird?

In ihrem Buch "Der Pilz am Ende der Welt  - Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus" (2015) denkt sie über den Matsutake-Pilz nach. Der wächst gerne da, wo alles schon zerstört ist: in den atomverseuchten Ruinen Hiroshimas, auf Industriebrachen oder in den von der profitorientierten Holzwirtschaft völlig ausgelaugten Wäldern Oregons. Tsing folgt der kulturellen und biologischen Verbreitung dieses sehr teuren und speziell riechenden Speisepilzes – aber auch den prekär arbeitenden Sammlern, den globalen Warenketten und Wissenschaftlern, die mit ihm zu tun haben. Bis jetzt ist sie in der Mainstream-Kunstwelt jedoch kaum in Erscheinung getreten.

Diskurs-Schmuck vs Weltraumfantasien

Und da sind, wie Ben Davis anführt, noch viele solcher Beispiele: Kollektive wie die zuvor völlig unbekannten Documenta-Macher Ruangrupa (auch bei Monopol in den Top 10), oder Poeten und Kulturtheoretiker wie Fred Moten (ebenfalls in der Monopol Top 100). Das Konzept der "Macht" ist in Zeiten von Identitätspolitik und der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit im Kulturbetrieb immer weniger cool, sagt Davis. Deswegen würde jetzt dieses intellektuelle Wunschdenken eingesetzt, um das Ganze progressiver aussehen zu lassen. Doch, so bemerkt er treffend, wenn diese hochgestochenen Ideen tatsächlich Power hätten, hätten die Krypto-Kapitalisten die globale Kunstwelt nicht so schnell auf den Kopf stellen können.

Da ist natürlich etwas dran. Es wäre nicht schwierig zu sagen: Widerstand zwecklos, der Markt und die Gier sind allmächtig.  Doch wer möchte sich schon Zukunftsexpertinnen in Gucci und Dior anvertrauen, Erben, Influencerinnen und Spekulantinnen, die ihre Oma für regenbogenscheißende Einhörner und ein paar Krypto-Dollar von der Klippe werfen? Das wollen diese Leute sogar selbst nicht.

Daher kommen ja auch diese Fantasien vom Weltraum, virtuellen Welten und neuen Planeten oder Raumstationen, die man bewohnen kann, wenn die Erde kaputt ist. Genau deshalb sollte man sich den Diskurs-Schmuck, die vermeintlichen Feigenblätter auf dem Top-100-Weihnachtsbäumen, noch mal genauer ansehen. Denn auch die verkörpern extremes Science-Fiction-Denken, nur ist dieses den vorherrschenden, sehr männlichen Fifties-Weltraumfantasien scheinbar diametral entgegengesetzt.

Von anderen Spezies lernen

Wie auch die feministische Theoretikerin und Naturwissenschaftshistorikerin Donna Haraway, die in der Monopol Top 100 in diesem Jahr den ersten Platz belegt, fordert Anna Tsing eine radikale Wende ein. Beide formulieren schon seit Jahrzehnten eine marxistisch, feministisch und vor allem materiell geprägte Sicht auf das Anthropozän, das Zeitalter, in dem sich der Mensch durch die Industrialisierung zum größten geophysikalischem Einflussfaktor entwickelte.

Das Anthropozän steht mit seinen ökologischen und humanitären Katastrophen, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen allerdings fast schon wieder vor dem Aus. Nicht nur unzählige Tier- und Pflanzenarten werden gerade ausgerottet. Auch uns Menschen droht ein Massensterben. Um zu überleben, sagen Tsing und Haraway, müssen wir unsere Vorherrschaft aufgeben und unsere Rolle im Kosmos, das Verhältnis zwischen Kultur, Wissenschaft und Natur neu bestimmen. Es ist höchste Zeit. Denn wir leben bereits heute in den Ruinen des Kapitalismus, einem Zeitalter der Vernichtung, Ausbeutung und Auslöschung, in einer für die meisten Lebewesen völlig prekären Situation.

Wir kommen als menschliche Spezies da nicht mehr alleine raus, waren aber tatsächlich auch nie in der Lage, alleine Welten zu machen. Um diese Situation zu begreifen, brauchen wir nicht nur Fakten, sondern auch multiperspektivische Erzählungen, Erfahrungen, die helfen, uns emotional und kreativ mit anderen Spezies zu verbinden und andere Formen des Denkens und des Wahrnehmens von ihnen zu erlernen. Dabei helfen laut Haraway lauter SF-Sachen: science fact, science fiction, speculative feminism, speculative fabulation.

Kontaminierte Diversität

Doch die Storys, die dabei herauskommen, erzählen nicht von der glorreichen Eroberung fremder Welten, sondern von einer neuen ökologischen und sozialen Diversität, die durch Kontamination und Ausrottung entsteht. "Kontaminierte Diversität", schreibt Anna Tsing, "das meint Geschichten von Gier, Gewalt, Umweltzerstörung, vom Überleben." Und: "Nur, indem wir dieser Kakofonie von aufgewühlten Geschichten zuhören, werden wir uns berechtigte Hoffnungen  auf ein prekäres Überleben machen können."   

In den Männerfantasien des Muskismus und der augenblicklichen Spekulationswelt der Krypto-Kunst geht es um Starship-Trooper, Pioniere, waghalsige, spielerische Einzelkämpfer, die Risiken wagen, neue Welten "bauen" oder kolonialisieren. Tsing und Harway reden auch von "world-making". Doch in diesem Denken macht nicht nur der Mensch Welten, sondern alle Spezies und auch Nicht-Lebendes: Bakterien, Pflanzen, Säugetiere, Insekten, Vögel,  Krebse, Fadenwürmer, Pilze,  Maschinen, Cyborgs, Algorithmen. Alles ist ineinander verwickelt, verheddert, braucht und bedingt einander.

Beide, Haraway und Tsing sehen den Begriff des Anthropozäns, des "Zeitalters des Menschen" als irreführend an. Sie schlagen stattdessen andere, zusätzliche Begriffe vor: Plantationozän, Kapitalozän, oder Chthuluzän. Der Begriff "Chthulu", den man vielleicht aus der Horrorliteratur von H. P. Lovecraft kennt, lehnt sich bei Haraway an das aus dem klassischen Griechischen kommende "chthonisch" an, was soviel bedeutet wie "aus der Erde kommend". Haraway meint damit eine uralte Kraft: Tentakelhaftes, Verrottendes, Wimmelndes, Pilziges, Schleimiges – alles was wir im alten Denken des späten Kapitalismus, wie etwa in Ridley Scotts Horrorklassiker Alien (1977), gerne weit draußen, unten, im Dunkeln belassen würden.

Willkommen im Chthuluzän

Stattdessen fordert sie uns auf, uns damit anzufreunden. Aber nicht wie im Streichelzoo. Wie auch Tsing spricht sie von "Kinship", also "Gefährtenschaft" zwischen dem Menschen und nicht-menschlichen Spezies. Doch Haraway oder Tsing geht es bei der Solidarität zwischen unterschiedlichen Lebensformen nicht um eine Art verlorenen, paradiesischen, idealisierten Zustand: Es geht darum, wie Haraway schreibt, "in Gesellschaft, bei Tisch" zu sein. "Und beim Kompostieren sitzen wir an einem Tisch, auch mit denen, die uns im Sterben zur Erde zurückbringen werden.

Ich mag das Wort Kompost, weil es Leben und Sterben einschließt. Im Kompost stehen die Fragen der Endlichkeit und der Sterblichkeit im Vordergrund, nicht auf eine depressive oder tragische Art und Weise, aber diejenigen, die unser Fleisch der Erde zurückgeben werden, sind an der Herstellung des Komposts beteiligt."

Das Chthuluzän, erklärt Haraway, erfordert eher eine Sym-Poiesis oder ein "Mit-Machen" als eine Auto-Poiesis oder ein "Selbst-Machen". Wir müssen also lernen, gemeinsam beim "Trouble" zu bleiben, in diesem heißen, gärenden Kompost, in dem auch Organisches und Technologisches gemeinsam gären und sich zu neuen Geschichten verbinden.

Wir müssen mit den Schwierigkeiten des Zusammenlebens und -sterbens auf dieser beschädigten, kaputten Erde zurechtzukommen. Die kapitalistischen Ideen, die Erde völlig auszubeuten, so weiterzumachen, so lange es nur geht, um dann menschliche Kolonien in neuen Welten zu gründen, hat für Haraway und Tsing einen entscheidenden Fehler: Man müsste die ganze Erde mitsamt ihren komplexen Systemen einpacken und mitnehmen, um eine neue zu gründen. Der Mensch kann nicht alleine überleben. Basta.

Krypto-Rebellen und alte Kunstwelt im selben Flugzeug

Doch die Abkehr von Eroberungsfantasien bedeutet alles andere, als "Back to the Roots". "Ich schlage nicht vor, in die Steinzeit zurückzukehren", schrieb 1989 die feministische SF-Autorin Ursula K. Le Guin, die Haraway und Tsing inspirierte, "Meine Absicht ist weder reaktionär noch konservativ, sondern schlicht subversiv. Die utopische Vorstellungskraft sitzt offenbar in der Falle, wie der Kapitalismus, die Industrie und die gesamte Menschheit, sie sitzt in einer Einbahnstraßenzukunft, die nur Wachstum kennt. Ich versuche lediglich darüber nachzudenken, wie die Kuh vom Eis zu holen ist."

Aber warum ist dieses kritische Denken für die etablierte Kunstwelt, die sich in diesen "Power100"-Listen abbilden will, so bedeutsam? Es ist von Bedeutung, weil die vermeintlichen Krypto-Rebellen gemeinsam mit den alten Märkten und Machern, die sie angeblich in Frage stellen, im selben silbernen Raumschiff sitzen. Sie sind auf dem Weg zu einer Welt 2.0 mit schier unerschöpflichen Möglichkeiten und Privilegien. Und dennoch ist da selbst bei den hartgesottensten Pionieren bestimmt ein gewisser Zweifel. Man muss nur aus dem Fenster auf den sterbenden Planeten blicken. Und wer sagt, dass sich die Geschichte nicht wiederholt?   

Auch die Macher und Macherinnen der Krypto-Kultur wissen, dass sie kaum gesellschaftliche, eher geschäftliche Visionen haben, dass die Denkmodelle des Kunstmarktes immer noch kolonialistisch am Profit, der Ausbeutung von "Rohstoff" festhalten – was sich gerade in der Nutzung von NFTs und Blockchain-Technologie zeigt. Und natürlich gibt es die Kunstwelt nicht, tatsächlich ist auch hier alles miteinander verheddert und verstrickt – Märkte, Akademien, Denkströmungen, Ausbeutung und Aktivismus. Deshalb braucht auch die "Power100" verschiedene, einander widersprechende Erzählungen, von denen sich notgedrungen immer mehr mit dem prekären Leben in der Welt 1.0 beschäftigen.

Blockchain bedeutet immer noch ökologischen Raubbau

In "Der Pilz am Ende der Welt" beschreibt Anna Tsing auch die Geschichte der Pioniere und ihrer Fortschrittserzählung und die Umwandlung von "leerem Raum" in Gebiete industriell genutzter Rohstoffquellen. Man kann sich auch die Blockchain-Technologie als ein Tool zur Eroberung eines "leeren" Raums vorstellen, der jetzt auch unterstützt vom Kunstmarkt wie der Wilde Westen oder eine Kolonie besiedelt wird.

Schon die Begriffe des "Mining", des Bitcoin-Schürfens passen dazu, ebenso wie das Risiko, das beim Spekulieren gewagt werden muss, der sagenhafte Gewinn, der frühen Investoren winkt. Und natürlich ist da immer noch der unglaubliche Energieverbrauch, den die Server der Mining-Farmen in Island oder Asien für die hohe Rechnerleistung der Transaktionen brauchen. Man arbeitet zwar an anderen Lösungen, aber Blockchain bedeutet immer noch ökologischen Raubbau.

"Man schätzt, dass die Bitcoin-Blockchain pro Jahr mehr Strom verbraucht als die Niederlande", schreibt Kolja Reichert in "Krypto-Kunst". Der Künstler Memo Akten habe errechnet, dass jeder NFT einen Kohlenmonoxid-Abdruck hinterlässt, der einem zweistündigen Flug entspricht, höhere NFT-Editionen verursachen sogar die Emission dutzender Transatlantikflüge. Fast alle größeren Galerien, noch so alte und distinguierte Händlerinnen und Händler, Menschen, die smarte und diskursive Programme kuratieren, wollen da mitverdienen. Soviel zum grünen Kunstbetrieb. Der braucht die Erde anscheinend genauso wenig wie Bezos oder Musk. Im Gegenteil, er legitimiert mit dem NFT-Hype die Idee des Raumschiffs, der happy few, die hinter die VIP -Kordel in die Kapsel dürfen, während alle andern schon mit den Folgen dieser Ökonomie klarkommen.