Dorothy Iannone in Berlin

Sinn und Sinnlichkeit

Das Private ist politisch, dieser spätere Leitspruch des Feminismus könnte Dorothy Iannone schon 1960 durch den Kopf gegangen sein. Nach der Landung am New Yorker Flughafen wurde damals ihre Ausgabe von Henry Millers „Wendekreis des Krebses“ beschlagnahmt. Iannone verklagte die Zollbehörde, bekam das Buch zurück und trug mit dem Präzedenzfall dazu bei, dass Millers Romane in Amerika vom Index verschwanden. Sexdarstellungen sind heute, zumindest in Mitteleuropa, keine Aufreger mehr. Doch Iannones freizügiges, unumwunden autobiografisches Werk, das zeitweilig selbst zensiert wurde, ist trotzdem etwas Besonderes – das wird die Retrospektive in der Berlinischen Galerie wieder einmal demonstrieren.

Iannone, 1933 in Boston geboren und seit 1976 in Berlin zu Hause, war ihrer Zeit oft weit voraus. Sie malte sich selbst beim Sex, lange bevor Jeff Koons sein Geschlechtsleben mit Ilona Staller öffentlich zelebrierte, und listete 1967 in einem Künstlerband ihre Sexpartner auf – in dem Jahr war Tracey Emin gerade mal vier.

Die Werke, die in Berlin zu sehen sein werden, stammen durchweg aus privatem Besitz. „Die Sammler haben natürlich ihr Auskommen gesichert“, sagt Annelie Lütgens, die Kuratorin der Ausstellung, „aber es gab keine Ankäufe durch Museen, und so wurde Iannone weniger berühmt, als es ihr zustünde.“ Die Künstlerin stand zudem lange im Schatten Dieter Roths, den sie 1967 in Reykjavík kennengelernt hatte. Sie selbst nannte Roth, mit dem sie bis 1974 liiert war, ihre „Muse“. Durch ihn wandte sich Iannone von einer Ästhetik zwischen abstraktem Expressionismus und Farbfeldmalerei ab und begann mit Bildern und Texten zu erzählen. „And when I saw Dieter I knew I would change my life“, schreibt sie zum Beispiel in der Serie erotischer Zeichnungen „An Icelandic Saga“ (1978–86), die Teil der Berliner Ausstellung ist.

Neben großen Gemälden und Künstlerbüchern tauchen dort John Lennon, Robert Kennedy, Meeresgott Poseidon oder Botticellis „Venus“ in Form kleiner handgezeichneter Figurenaufsteller auf – wobei Dorothy Iannone die Zeitgenossen gern ohne Hosen dastehen lässt. Um eine befreite Sexualität kreisen auch ihre Videoskulpturen wie das auf der Whitney-Biennale 2006, zur Zeit ihrer Wiederentdeckung in den USA, präsentierte Werk „I Was Thinking of You III“ (1975–2005). Auf einem bemalten Holzkasten ist ein Paar beim Liebesspiel zu sehen, ein Monitor zeigt das Gesicht der Künstlerin, während sie masturbiert. Mit Porno hat das nichts zu tun. Aber viel mit Mut und einem radikalem Bekenntnis zur Sinnlichkeit und der spirituellen Kraft im Erotischen.

„Dorothy Iannone: This Sweetness Outside of Time“, Berlinische Galerie, 20. Februar bis 2. Juni. Eröffnung: 19. Februar, 19 Uhr