Monopol-Sommertipps

Was wir im Urlaub hören, lesen und schauen

Milena Smit (l) als Ana und Penélope Cruz als Janis in einer Szene des Films "Parallele Mütter"
Foto: El Deseo/Studiocanal /dpa

Milena Smit (l) als Ana und Penélope Cruz als Janis in einer Szene des Films "Parallele Mütter" 

Die Monopol-Redaktion und ihre Kolumnistinnen und Kolumnisten verraten ihre Lieblings-Ferienbegleiter für diesen Sommer

 

Elke Buhr Chefredakteurin

Hören: Hercules & Love Affair "In Amber"

Die Stimme der Sängerin Anohni ist und bleibt eine der berückendsten im Pop der Gegenwart, und der Dancefloor-Hit "Blind" mit der Band Hercules & Love Affair ist auch knapp 15 Jahre nach seiner Veröffentlichung der Moment auf jeder Party, an dem ich nicht mehr sitzen bleibe. Wie schön also, dass Andy Butler, der Mann hinter Hercules & Love Affair, für das neue Album "In Amber" wieder auf mehreren Tracks mit Anohni kollaboriert. Gemeinsam balancieren die beiden zwischen Dancefloor und Melancholie, Angriffslust und Introspektion. In "Christian Prayer" schleudert Anohni uns ihre Wut über die bigotte Kirche entgegen, in dem Hit "One" definiert sie das Sakrale für ihre eigenen Zwecke um, und immer findet ihre Stimme einen Weg von der Wut zur Hoffnung. Eine Sundowner-Begleitung der besonderen Art.

Im Stream z.B. auf Spotify, Apple Music, Deezer
 

Lesen: Helene Hegemann "Schlachtensee: Stories"

Die Berliner lieben ihren Schlachtensee  – so sehr, dass die Ufer im Sommer manchmal aussehen, als wäre gerade die halbe Love Parade drübergetrampelt. Auch der gleichnamige Erzählungsband von Helene Hegemann findet Brutalität hinter jeder Idylle. Scharf, schnell und mit unglaublicher Lakonie balancieren die Erzählungen in "Schlachtensee: Stories" Begegnungen mit schönen Surfern und sterbenden Vätern aus, beschreiben Hämatome wie Landschaften und wechseln in dem Moment, in dem man sich in einem Schicksal festgenagelt fühlt, geschickt den Fokus. "Schlachtensee" ist das erste Fiction-Buch Hegemanns nach ihrem Frühwerk "Axolotl Roadkill" von 2010 – ich hoffe, sie wartet mit dem nächsten nicht wieder so lange.

Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch


Nochmal Lesen: Lea Ypi "Frei"

Die Manifesta in Pristina lenkt in diesem Sommer den Blick in eine Region, die ich viel zu wenig kannte. Umso erhellender ist das großartige Buch der Philosophin Lea Ypi, die von ihrem Aufwachsen im sozialistischen Albanien erzählt, wo Enver Hoxha mit stalinistischer Brutalität gegen vermeintliche Abweichler vorging – und gegen Leute aus ehemals großbürgerlichen Familien wie die von Ypi. Jahrelang spielt Ypis Familie dem cleveren Kind deshalb absolutes Einverständnis mit dem Sozialismus vor. Die Aufklärung und damit komplette Desorientierung kommen erst mit dem Fall des Regimes, der auch eine Phase des Chaos im Land auslöst. All das beschreibt Ypi mit viel Witz und einem wunderbaren Sinn fürs Absurde. 

Erschienen bei Suhrkamp

 

 

Pauline Herrmann Monopol-Praktikantin

Hören: "Wild Wild Web – Die Kim Dotcom Story"

Die sechsteilige Podcast-Serie "Wild Wild Web – Die Kim Dotcom Story" vom Bayrischen Rundfunk erzählt die Geschichte des Internet-Unternehmers Kim Dotcom. Er war einst Deutschlands berühmtester Computer-Nerd, dann der superreiche Betreiber von Megaupload und heute Angeklagter im vielleicht größten Copyright-Prozess aller Zeiten. Mit seinem Unternehmen soll Kim Dotcom Urheberrechtsverletzungen im Wert von einer halben Milliarde US-Dollar ermöglicht haben. Mit spannenden und witzigen Skripten arbeitet das Team des BR-Podcasts die Geschichte des exzentrischen Unternehmers auf und zieht einen damit direkt in den Bann.

Im Stream auf BR Podcast oder Spotify

Lesen: Olivia Laing "Everybody"

Die britische Schriftstellerin und Journalistin Olivia Laing ist besonders für ihre non-fiktionalen Bücher wie "The Lonely City" oder "The Trip to Echo Spring" bekannt. Ihr aktuellstes Buch "Everybody" ist eine Mischung aus Memoir, Künstlerbiografie und Essay. Die Autorin nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die großen Freiheitsbewegungen des 20. Jahrhunderts und widmet sich der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Körper, Sexualität und Freiheit. Das Buch ist eine Collage von Biografien bedeutender Persönlichkeiten, darunter Nina Simone, Philip Guston, Malcolm X, Agnes Martin, Christopher Isherwood und Susan Sontag. Ausgangspunkt ist, neben ihren eigenen Protesterfahrungen, die Psychoanalyse Wilhelm Reichs, dessen Persona die Assemblage der Figuren zusammenhält – alle wurden in der einen oder anderen Form durch Reichs Denken beeinflusst. Laings Talent, große Ideen mit lyrischer Prosa zu verweben ist beeindruckend. Das Buch ist bis jetzt erst auf Englisch erschienen, aber lohnenswert auf die Leseliste zu schreiben.

Erschienen bei Picador

Schauen: "Die Unbeugsamen"

All diejenigen, die – pandemiebedingt oder nicht – den Film in den Kinos verpasst haben, sollten sich diesen Sommer Torsten Körners Dokumentarfilm "Die Unbeugsamen" auf ihre Watchlist schreiben. Das filmische Zeitdokument scheint Licht auf die Polit-Pionierinnen der Bonner Republik und verwebt Archivmaterial mit aktuellen Interviews. Der Film entlarvt die Misogynie auf der politischen Bühne westdeutscher Vergangenheit und deckt mit bitterem Humor peinliche Wahrheiten über die wichtigsten Entscheidungsträger dieses Landes auf. Die Aktualität des Films, nicht nur angesichts des Rückgangs des Frauenanteils im Deutschen Bundestag allgegenwärtig, dient als Appell, Politik zu gestalten, sich einzubringen. Ein Film teils komisch und absurd, bisweilen bitter und erschreckend – Szenen, die man nicht so schnell vergisst.

Im Stream auf Amazon Prime

 

Jens Hinrichsen Redakteur

Hören: "Pelléas et Melisande"

Von Claude Debussys Anti-Oper "Pelléas et Melisande" gibt’s fast nur gute Aufnahmen. Schlicht sensationell ist die neue Produktion des Orchesters Les Siècles, das auf den historischen Instrumenten der Entstehungszeit um 1900 spielt. François-Xavier Roth zapft einen opalisierenden Klangstrom aus der Partitur, das Sängerensemble ist exquisit besetzt – herausragend: der Bariton Alexandre Duhamel als Golaud, der die rätselhafte Mélisande für sich beansprucht und zum Mörder seines Bruders Pelléas wird. Eine Musik voller Licht und Schatten.

Im Stream z.B. auf Spotify 

Lesen: Jonathan Lee "Der große Fehler"

An einem Novembermorgen im Jahr 1903 wurde der betagte Rechtsanwalt und Stadtplaner Andrew Haswell Green erschossen. Eine sinnlose Tat, die der britische Schriftsteller Jonathan Lee zum Ausgangspunkt eines historischen Romans gemacht hat. "Der große Fehler" ist kein Krimi, obwohl mit Inspektor McClusky ein Ermittler auftritt. Das Buch ist eine aufregende Spurensuche nach dem heute fast vergessenen Mann, ohne den es weder Central Park noch Metropolitan Museum gegeben hätte. Was nur hatte Green, der sich vom Farmersohn zum "Father of Greater New York" mauserte und bei Lee seine Homosexualität nicht ausleben kann, mit der schillernden Kurtisane Bessie Davis zu tun? "Der Roman ist aus Mangel der Geschichte entstanden" – dieses Novalis-Zitat ist dem Buch vorangestellt. Aus lückenhaften Quellen destilliert Jonathan Lee das berauschende Bild der Gründerzeit New Yorks und einiger bisher vernachlässigter Figuren.

Erschienen bei Diogenes

Schauen: Anthony Mann "Der Untergang des Römischen Reiches"

Bis 27. November widmet sich eine Ausstellungstrias in Trier (Rheinisches Landesmuseum, Museum am Dom, Stadtmuseum Simeonstift) dem Thema "Der Untergang des Römischen Reiches und die Folgen". Auch im Kino, das die kleinen und großen Katastrophen liebt, hatte der Zerfall des Weltreichs Folgen – etwa den 1964er Sandalen- und Vandalenfilm "The Fall of the Roman Empire", die sich auf das Ende des "guten" Kaisers Marcus Aurelius (würdevoll: Ur-Obi-Wan Alec Guiness) und die Willkürherrschaft seines Sohnes Commodus (herrlich verrückt: Christopher Plummer) beschränkt (und schon im Vorspann seine historische Unkorrektheit einräumt). Mit von der Untergangspartie sind Sophia Loren als Lucilla, Stephen Boyd als Livius, James Mason als Timonides. Anthony Mann, neben John Ford und Howard Hawks einer der großen Westernregisseure, bewies mit dem "Untergang des Römischen Reiches" sein gutes Händchen für Monumentalstoffe. Der irre teure, in einer riesigen Rom-Kulisse in Spanien gedrehte Film floppte zu Unrecht an den Kinokassen und besiegelte den Untergang des Produzenten Samuel Bronston. Wer Ridley Scotts "Gladiator" mag, wird diesen Film lieben.

Im Stream auf AppleTV oder bei Amazon Prime 

 

 

Silke Hohmann Redakteurin 

Hören: Indigo Jam Unit "Sepia" 

Ich habe nicht ganz verstanden, was die ultrasympathischen, ultrastylishen Künstler von Cinema Caravan auf der Documenta Fifteen eigentlich genau gemacht haben in ihren Moskitozelten auf den Karlsauen, mit den Kräutern in Schubkarren und ihrer ein ganz klein wenig einfältigen Losung "No Art Make Friends". Aber mehr als alle Kräuter und Konzepte hat mich ihre Musik überzeugt. Japanischer Jazz aus den 1960er- und 1970er-Jahren, wirr und heiter wie ein magischer Tagtraum, mit Posaunen so süß wie ein ökologisch verträgliches High. Leider nicht shazamt, aber anschließend auf der Suche nach einer neuen Dosis auf Indigo Jam Unit gestoßen. Es gibt kaum einen besseren Start in einen Sommertag als ihr fantastisch betitelter Song "Sepia".

Im Stream z.B. auf Spotify


Lesen: Ausstellungs-Begleitzeitschrift "Diversion"

Die Ausstellung "Diversion" im Frankfurter Portikus hat den Main, auf dem sich die Kunsthalle befindet, umgeleitet in ein Bassin. Jetzt fließt er gefiltert und berührbar durch den Ausstellungsraum. Die Schau von Asad Raza ist nicht nur deshalb so wundervoll, weil sie Abkühlung und überhaupt Kontakt mit dem Fluss verschafft, der seit der Zeit des sauren Regens als giftig und gefährlich gilt, und weil diese Intervention Skulptur und soziale Plastik zugleich ist. Sondern auch, weil dazu eine wunderschön altmodische Zeitung erscheint, in der Künstlerinnen und Denkerinnen aus dem Kunstbetrieb in tollen Miniaturen über das Wasser reflektieren. Besonders schön ist die letzte Seite mit einem Kreuzworträtsel von Keren Cytter (mildes Schimpfwort mit vier Buchstaben?) und mit einer Playlist von Städel-Direktorin Yasmil Raymond. Von "Die Forelle" über die Byrds ("Ballad of Easy River") bis zu "Fluss" von LEA. Diese Zeitung ist ideale Pool-Lektüre, außerdem eignet sie sich viel besser als Fächer als ein Telefon.

Erhältlich in der empfehlenswerten Ausstellung "Diversion", Portikus Frankfurt, bis 25. September


Schauen: "Obi Wan Kenobi"

Es ist ein sehr lässiger Gruß, mit dem Obi Wan auf einen kleinen Jungen in der Wüste zugeht. Er hat ein weiß-rotes Raumschiff zum Spielen für ihn dabei. Es geschieht im letzten Teil der ersten Staffel dieser Miniserie aus dem "Star Wars"-Universum. "Obi Wan Kenobi", vor zwei Monaten auf Disney+ erschienen, ist natürlich von solchen Menschen geschrieben worden, für die das George-Lucas-Epos diese eine, große, alle vereinende, allumfassende Erzählung ist. Das, was für die Generation vor ihnen "Winnetou" war und danach möglicherweise "Harry Potter". Die Serie macht nicht nur wegen Ewan McGregor in der Hauptrolle sehr viel Freude, sondern weil sie als leidenschaftliche Verneigung vor Lucas erzählt ist. Vor allem aber wegen der vielen kleinen Querverweise auf die Dinge, die noch passieren werden (bekannt seit 1977) und jene, die sich schon ereignet haben (wie wir seit "Episode One" von Ende der 1990er wissen). Ach so, der kleine Junge ist natürlich Luke, und die Begrüßung lautet "Hello, there!", und es ist wirklich nicht jedem zu erklären, wie man von sowas dermaßen ergriffen sein kann!

"Obi Wan Kenobi", bei Disney Plus

 

 

Ji-Hun Kim Kolumnist

Hören: Kaitlyn Aurelia Smith & Emile Mosseri "I Could Be Your Dog / I Could Be Your Moon"

Die Komponistin und Produzentin Kaitlyn Aurelia Smith hat bereits im vergangenen Jahr eine gemeinsame EP mit Emile Mosseri herausgebracht, der unter anderem für seinen Soundtrack für "Minari" für den Oscar nominiert wurde. Dieses Jahr erschien endlich das Album "I Could Be Your Dog / I Could Be Your Moon", das auf 13 Titeln zeigt, wie schön und emotional elektronische Musik sein kann. Skizzenhaft und minimalistisch erzeugen die Songs einen ganz eigenen Sog, der eindringlich und sehnsüchtig ist. Volatil, fantastisch im Sound-Design und cineastisch ist dieses Album, das immer wieder neu gehört werden will. 

Im Stream z.B. auf Spotify


Lesen: James Bridle "Ways of Being"

Zwar noch nicht gelesen, aber auf meiner Leseliste für den Sommer befindet sich James Bridles neues Buch "Ways of Being", der zuvor mit "New Dark Age" ein sehr scharfsinniges, leider wenig optimistisches und kluges Buch über die Digitalisierung geschrieben hat. In "Ways of Being" beschreibt der englische Autor und Künstler den Einfluss von technologischen Weltansichten. Computer können helfen, die Welt besser zu verstehen, aber wie gehen wir mit Systemen wie Machine Learning um, die der Mensch eigentlich schon gar nicht mehr versteht?

In der britischen Version über Penguin Books (ab 4. Juli)

 
Schauen: "Severance" 

Heutzutage sind Serien, ob auf Netflix oder Amazon, oft wieder zu jener Stangenware verkommen, weshalb vor 15 Jahren eigentlich alle resigniert dem linearen Fernsehen den Rücken zugewandt haben. Die Apple-Produktion "Severance" überrascht in vielerlei Hinsicht. Die dunkle Dystopie einer kapitalistisch-monopolistischen Arbeitswelt, die selbst vor Gehirnoperationen nicht zurück schreckt, damit die Menschen sich während der Arbeit nicht an das Privatleben erinnern können und vice versa. "Severance" ist ästhetisch und anspruchsvoll gefilmt. Der Cast mit Christopher Walken, Britt Lower, Patricia Arquette, John Torturro und Adam Scott ist hochklassig. Und, die Serie revivalt gekonnt Mystery-Serien wie "Lost" mit vielen versteckten Hinweisen und Rätseln und liefert ein grandioses Finale in der ersten Staffel. Nicht zuletzt führte in sechs Episoden Ben Stiller Regie, was viele ignoranten Hater verstummen lassen dürfte, die dem Hollywood-Star nicht mehr zugetraut haben, als Klamauk à la "Verrückt nach Mary" oder "Nachts im Museum" aufs Parkett zu bringen. 

Auf Apple TV+

 

 

Alia Lübben Online-Redakteurin

Hören: "Wirecard – 1,9 Milliarden Lügen", Noga Erez, L I N

True-Crime-Podcasts sind nicht so mein Ding, ich möchte mir in meiner Freizeit nicht anhören, wie Menschen umgebracht werden. Eine Ausnahme bildet (eben weil es nicht um Mord geht) die von Spotify und der "Süddeutschen Zeitung" produzierte Podcast-Serie "Wirecard – 1,9 Milliarden Lügen". Der große Skandal um den Finanzdienstleister Wirecard ist jetzt über zwei Jahre her. Damals deckte ein Journalist der "Financial Times" auf, dass das DAX-notierte Unternehmen 1,9 Milliarden Euro vorgetäuscht hatte, die es nicht besaß. Im März dieses Jahres wurde schließlich Anklage gegen den Geschäftsführer des einst so hochgelobten FinTech-Unternehmens gestellt. Zeit also für eine neue Staffel der Podcast-Serie.

Wer lieber Musik hört als Podcasts, dem oder der empfehle ich dieses Jahr Noga Erez. Endlich wieder auf Festivals gehen und beim Treibenlassen neue Musik entdecken, das ist die Devise für den Sommer 2022. Auf dem Immergut Rocken, einem kleinen Indie-Hotspot bei Neustrelitz, wurde ich von den Klängen Noga Erez' förmlich an die Bühne gesogen. Die israelische Künstlerin macht unkonventionellen, sehr tanzbaren Rap auf elektronischen Synthie-Beats. Sound und Texte sind kratzig und ungefällig, aufmüpfig und doch perfekt produziert, politisch und sassy. Die Single "Nails", die zum Hüpfen einlädt, hat es mir besonders angetan, das Live-Cover von Lil Nas X’s "Industry Baby" hat mich zu Tränen gerührt. Eine weitere Festival-Entdeckung dieses Sommers, die ich nicht missen möchte und die noch viel zu unbekannt ist, ist das Klangwunder L I N. Noch ist die Songauswahl auf Spotify eher spärlich, wer aber schon ein bisschen mehr hören und verfolgen will, wann sie wo spielt, kann der Musikerin auf Instagram folgen.

Der Podcast läuft exklusiv auf Spotify


Lesen: Daniel Speck, "Jaffa Road"

Ein deutscher Fotograf, der von Goebbels‘ Propaganda-Ministerium mit dem Deutschen Afrikakorps nach Tunesien geschickt und als Deserteur von einer jüdisch-italienischen Familie in einem Hafenviertel von Tunis aufgenommen wird. Damit beginnt der erste Teil der komplexen Geschichte, die Daniel Speck erzählt, als sei er selbst durch die Zeiten gesprungen, um an der Seite der verschiedenen Figuren in die Welt zu blicken.

Mit "Bella Germania" feierte der Regisseur vor einigen Jahren seinen Durchbruch als Romanautor. Seine aufeinander aufbauenden Bücher "Piccola Sicilia" und "Jaffa Road" behandeln ebenfalls Familienschicksale über mehrere Generationen. Jedoch ziehen sich die Netze hier noch globaler: Von Ost-Berlin nach Tunis, von Israel nach Italien, von Palästina nach Westdeutschland. Der Zweiteiler schönt die geschichtlichen Ereignisse nicht, er nimmt niemanden in Schutz, aber er klagt auch nicht an. Er zeigt lediglich, dass Geschichte von Menschen gelebt wird. Und das Leben verläuft eben nicht linear.

Erschienen bei S. Fischer
 

Schauen: "Dorothys Dämonen"

Der "Pride Month" Juni ist vorbei – perfekte Zeit also, um direkt mit queeren Filmen weiterzumachen. Mubi hat eine kleine feine Auswahl an Streifen aus unterschiedlichen Jahrzehnten und Teilen der Welt zusammengestellt, abseits von Mainstream-Filmen mit bitterem Beigeschmack für ein primär weißes hetero-normatives Publikum (denken wir beispielsweise an Armie Hammers Kannibalismus-Skandal oder den male gaze bei "Blau ist eine warme Farbe"). Besonders freue ich mich auf die campige Kurzfilm-Horror-Komödie "Dorothys Dämonen" (ab 12. Juli), die nach einer Mischung aus Jim Hensons "Die Reise ins Labyrinth", "Hexen hexen" und der "Rocky Horror Picture Show" aussieht.

Im Stream auf Mubi

 

 

Saskia Trebing Online-Redakteurin 

Hören: "The Lonely Palette"

Im Podcast "The Lonely Palette" bittet Moderatorin Tamar Avishai Menschen in Museen, ein bestimmtes Werk in ihren eigenen Worten zu beschreiben, erst dann kommen die Informationen zu Kunst und Künstlerin. Das macht ein bisschen süchtig und Lust auf Kunst-Smalltalk im Museum. 

Im Stream auf der Podcast-Website


Lesen: Elisa Aseva "Über Stunden"

Zuletzt war die Berliner Lyrikerin Elisa Aseva wegen eines verkürzt widergegebenen Zitats über den Kommunismus in den Schlagzeilen. Dabei sollte man lieber jede Zeile ihres Buches "Über Stunden" lesen, das aus ihren gesammelten – sehr geistreichen – Facebook-Posts besteht. Präzise Beobachtungen aus dem Alltag treffen auf kleine poetische Weltfluchten. So wird das was mit dem sozialen Medium. 

Erschienen bei Weissbooks


Schauen: "Flux Gourmet"

Wenn ich jetzt sage, dass es in Peter Stricklands absurdem Food-Horror-Film "Flux Gourmet" um einen Schriftsteller mit Verstopfung und die grausamen Rivalitäten von künstlerischen Koch-Kollektiven geht, klingt das erstmal etwas abseitig. Strickland gelingt es jedoch wie in allen seinen Filmen, opulente Bild- und Soundlandschaften zu erschaffen, die einen unweigerlich mit in ihre Abgründe ziehen. Die orgiastischen Essens-Performances sind nicht immer appetitlich, aber als Kunstform brennen sie sich tief ins Gedächtnis ein.

"Flux Gourmet" gibt es im Stream bei Amazon Prime

 

 

Daniel Völzke Leitung Online

Hören: Jochen Distelmeyer "Gefühlte Wahrheiten"

Vor einigen Jahren behauptete ein Kritikerkollege in privater Runde, Jochen Distelmeyer sei der beste deutschsprachige Dichter der Gegenwart. Damals war der Sänger noch Kopf der Band Blumfeld, die einen langen Weg zurückgelegt hatte von vor Zitaten und Anspielungen berstenden Songs in den 1990er-Jahren (auch der Bandname ist eine Kafka-Referenz) zu einer einfachen Naturlyrik. Wer darüber mehr wissen will, sollte dieses Video mit dem Maler Daniel Richter anschauen. 
Nach Auflösung der Band und 13 Jahre nach einer ersten Soloplatte ist gerade "Gefühlte Wahrheiten" erschienen. In den drei Vorab-Singles und den dazugehörigen Videos hatte sich Distelmeyer wieder als Künstler inszeniert, der abseits der Gesellschaft steht, aber auf sie von einer empathischen Beobachterposition schaut. Mit bemühten Metaphern wie "Das Real Life ist den Hatern ins Netz gegangen" und Phrasen wie "Die Nacht ist jung" verspielt Distelmeyer zwar seinen Ruf als Dichterkönig-Kandidat endgültig, aber das ist ihm offenbar egal: Das Risiko, peinlich oder trivial zu wirken, gehört zu dem inzwischen 54-Jährigen und wird aufgefangen durch die Ehrlichkeit und Entspanntheit, die er dadurch gewinnt. Und durch diese Stimme, die immer klar, immer mühelos, nie schmetternd, nie röhrend, alterslos und trotzdem voll Erfahrung ist.

Im Stream z.B. auf Spotify 


Lesen: Eckhart Nickel "Spitzweg"

"Blumfeld, ein älterer Junggeselle" heißt das bei meiner Hörempfehlung erwähnte Kafka-Fragment mit vollem Titel. Um die Feier des stolzen, einsamen Junggesellentums geht es auch bei "Spitzweg", dem jüngst erschienen zweiten Roman von Eckhart Nickel. Zu Lebzeiten gefeiert, im aktuellen Kunstdiskurs eher belächelt als spießiger Maler des Biedermeiers sind Carl Spitzweg (1808-1885) und seine "Hagestolz"-Darstellungen für die Romanfiguren ein Vorbild an Verschrobenheit und Einzelgängertum. "Hagestolz ist eine (veraltete) Bezeichnung für einen älteren, 'eingefleischten' Junggesellen, der von anderen oft als etwas kauzig angesehen wird", weiß Wikipedia, und gerade die Kauzigkeit gefällt dem Ich-Erzähler und seinem Schulkameraden Carl aus Nickels Buch. "Spitzweg" erzählt die Geschichte einiger hinweggeschwänzter Schultage in einer kleineren bundesdeutschen Stadt, er spielt in einer Gegenwart ohne TikTok und Globalisierung, es geht um eine Dreiecksfreundschaft, Jungs, Mädchen, Banden, Kunst, Dreikäsehochs und Pennäler. Zukünftige Hagestolze eben. Eine Art Feuerzangenbowle für Popliteraten: Für einen Jugendroman zu absonderlich und zu sehr auf Stil bedacht, für einen Erwachsenroman indes nimmt die Geschichte die TKKG-haften Schülerabenteuer zu ernst. Mit anderen Worten: Ein genrerhybrides Buch, das es selten gibt, für lange, ereignislose Ferientage genau das Richtige.

Erschienen bei Piper


Schauen: "Parallele Mütter"

"Yo quiero ser una chica Almódovar" (Ich möchte ein Almodovar-Mädchen sein) sang der spanische Sänger Joaquín Sabina einmal. Nachvollziehbar! Die vom Regisseur Pedro Almodóvar in seinen Spielfilmen porträtierten Frauen-Figuren haben es zwar oft nicht leicht und balancieren immer am sprichwörtlich-almodóvarschen Rande des Nervenzusammenbruchs, aber sie sind stark und solidarisch, eigen und schön. Im jüngsten Almodóvar-Film spielt Penélope Cruz eine von zwei Frauen, die ungeplant schwanger wurden und sich kurz vor der Geburt in einem Krankenhaus treffen. Die Geschichte ist in einem so guten Tempo und so nah an den Protagonistinnen erzählt, dass man von der ersten Minute und mit steigender Aufmerksamkeit dabei ist, wenn hier Menschen zusammenkommen, sich wieder verstoßen und am Ende natürlich Kompromisse finden, weil irgendwie geht es immer. In einigen Kinos und im Freiluftkino läuft "Parallele Mütter" noch, jetzt aber schnell!

 

Anne Waak Monopol-Stilkolumnistin

Hören: "Lolita Podcast" & "You Must Remember This"

Mich haben zuletzt zwei aufwendig recherchierte Podcasts beeindruckt: In "Lolita Podcast" geht Jamie Loftus zehn Folgen lang der Frage nach, welches teilweise bizarre Eigenleben Vladimir Nabokovs großartiger Roman über den Pädophilen Humbert Humbert und die zwölfjährige Dolores in den 65 Jahren seit seinem Erscheinen führt. Und welche kulturellen Prozesse aus dem zwölfjährigen missbrauchten Kind eine durchtriebene Verführerin ließen werden. Im Podcast "You Must Remember This" geht die Filmjournalistin Karina Longworth schon seit acht Jahren den verborgenen oder vergessenen Geschichten Hollywoods nach. Die aktuelle Staffel widmet sie einem ausgestorbenen Genre: dem Erotikfilm, wie er in den 80er-Jahren die Kinoprogramme bestimmte. Ein Jahr nach dem anderen untersucht Longworth so breit angelegt wie unterhalsam dahingehend, auf welche Weise Filme wie "9 1/2 Wochen", "Die Blaue Lagune" und "Dirty Dancing" den female gaze erfanden, ihre Zuschauer mit der Idee vertraut machten, dass Frauen auch Spaß an Sex haben können und Männer das erste Mal jung, heiß und gelegentlich sogar ganz nackt zeigten. 

"Lolita Podcast" über I Hearth Podcasts; "You Must Remember This" über die Podcast-Website


Lesen: Ottessa Moshfegh "Lapvona"

Seit ich vor Jahren Ottessa Moshfeghs "A Year of Rest and Relaxation" gelesen habe, bin ich auf der Suche nach etwas, das mich auch nur halb so gefangen nimmt wie dieses Buch über eine Frau im New York um die Jahrtausendwende, die sich mithilfe von Medikamenten ein ganzes Jahr lang in eine Art andauernden Winterschlaf versetzt. Das war einer der seltenen Romane, bei denen ich während des Lesens nicht wollte, dass er aufhört. Große Hoffnungen setze ich in "Lapvona", Moshfeghs jüngstes Werk. Es spielt während einer Pandemie in einem fiktiven mittelalterlichen Dorf und irgendwo stand: "Es ist meisterhaft und abscheulich. Ich bin froh, es gelesen zu haben, und froh, dass es vorbei ist." Was, wie ich finde, äußerst vielversprechend klingt. 

In der US-amerikanischen Version erschienen bei Penguin Books


Schauen: "Ein Mann für gewisse Stunden"

Eine Nebenwirkung der popkulturellen Tiefenbohrungen von "You Must Remember This" ist, dass man all diese Filme sofort (noch einmal) schauen möchte. Besonders "American Gigolo" – mit dessen Vorspann laut dem Autor Chuck Klostermann die 70er-Jahre endeten und die 80er begannen – lohnt es sich, mit dem eben erworbenen Hintergrundwissen erneut zu sehen. Etwa mit der Information, dass Richard Geres Gigolo ein Selbstporträt des Regisseurs Paul Schrader und seiner eigenen, zur damaligen Zeit ambivalenten Sexualität ist. Davon abgesehen macht es immer wieder Spaß, Julian Kay in seiner wohlkuratierten Armani-Garderobe und dem Mercedes unter der Sonne Kaliforniens dahingleiten zu sehen, im Hintergrund der glitzernde Pazifik. Ganz zu schweigen von der unwerfenden Lauren Hutton. 

"American Gigolo" (dt. "Ein Mann für gewisse Stunden") ist im Stream bei WOW (Sky)

 

 

Friedrich von Borries Monopol-Kolumnist 

Hören: Naturgeräusche

Auf die Gefahr hin, furchtbar altmodisch zu erscheinen: Raus gehen, auf den Boden legen, die Augen schließen. Sich Zeit lassen, um den Wind in den Bäumen, die Vögel und anderes Getier zu hören. Die eigenen Ohren reichen. Der frühe Morgen eignet sich besonders gut, viele Tiere sind Frühaufsteher. Und dann ist es auch noch nicht so heiß.

Einfach mal rausgehen


Lesen: Dipesh Chakrabarty "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter"

Wenn wieder ein Jahrhundert-Sommer ansteht, man schwitzt und so den Klimawandel am eigenen Körper zu spüren bekommt, drängt sich als Lektüre "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter" von Dipesh Chakrabarty auf. Der indische Historiker geht einer Definitionslücke des zeitgenössischen Denkens auf die Spur. Wenn wir von "Geschichte" reden, meinen wir meist die überlieferte Menschheitsgeschichte, also die letzten circa 10.000 Jahre. Kern dessen, was wir heute Anthropozän nennen, ist aber, dass der Mensch zum bestimmenden Faktor von Prozessen geworden ist, die einen ganz anderen Zeithorizont haben. Die fossilen Rohstoffe, die wir in den letzten 150 Jahren verbrannt haben, um die heutige Konsum- und Wohlstandsgesellschaft zu schaffen, brauchten für ihre Entstehung rund 300 Millionen Jahre. Die aus unserem Verbrauch folgende Erwärmung wird sich wiederum über mehrere 100.000 Jahre auf das Leben auf der Erde auswirken. Diese Zeithorizonte entziehen sich unserer Vorstellungskraft. Dieser Umstand, so Chakrabarty, erfordert eine Neuorientierung grundsätzlicher Art. Statt global zu denken – also im Rahmen des Raumes, den die Menschheit sich zur Besiedlung und Ausbeutung erschlossen hat – müssen wir Planetarisch denken: im Rahmen der Zeit, die Prozesse im Gefüge der Entstehung von Leben benötigen. 

Wem das zu harte Kost ist, sei "Termination Shock" empfohlen, der neue Science-Fiction-Klimawandel-Thriller von Neal Stephenson. In seinem berühmten Roman "Snow Crash" hatte er übrigens schon 1992 das Metaversum erfunden, das Mark Zuckerberg bei der Schöpfung seines Ersatzwelt Metaverse inspiriert hat. Stephenson versteht anscheinend etwas von dem, was in Zukunft auf uns zukommt.

Erschienen bei Suhrkamp


Schauen: Ferne Galaxien

Chakrabarty verweist in seinem fantastischen Buch auf den Satz, der auf Kants Grabstein steht: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Das mit dem moralischen Gesetz lassen wir mal dahin gestellt, aber die Betrachtung des Sternenhimmel ist gut geeignet, um die Differenz von Globalem und Planetarischem zu erfassen. Ich werde mir diesen Sommer jedenfalls ein Teleskop kaufen. 

Zu sehen am Himmelszelt