Tausend Bilder, ein Motiv


Wer sammelt, schafft Ordnung. Mit oft unübersichtlichen Bergen an Heftern, Alben oder Ablagen unterteilt der Sammler die Welt in ihren bewahrenswerten und ihren überflüssigen Teil. Zu den wichtigen Dingen kann für einen Sammler vieles gehören: Bierdeckel, Spielzeugeisenbahnen, Briefmarken, Porzellanelefanten.

 

Fabien Baron sammelt Fotos – Fotos, die er selbst gemacht hat. Diese Leidenschaft teilt er natürlich mit vielen. Doch die Bilder sind noch nicht alles. Fragte man Baron nach seinem eigentlichen Objekt, gäbe er eine andere Antwort. Sie klänge merkwürdig: „Ich sammle Zeit.“ Zumindest hat der renommierte Kommunikationsdesigner das 20 Jahre lang getan. Von 1983 bis 2003, Morgen für Morgen, Tag für Tag. Wer sammelt, ist zwanghaft. Allerdings würde Baron es eher Ritual statt Neurose nennen. Im Vorwort seines neuen Buchs „Liquid Light“ spricht der 48-Jährige von einer „Religion“, die einen „selbsttherapeutischen Effekt“ auf ihn gehabt habe.
Vielleicht hat Fabien Baron, der seit Mai dieses Jahres Chefredakteur des 1969 von Andy Warhol gegründeten Magazins Interview ist, damit sogar recht. Denn seine nun bei Steidl publizierte Zeitsammlung wirkt auf jeden Fall höchst religiös. Das liegt nicht zuletzt an den Orten, an denen der aus Frankreich stammende New Yorker seine Zeit gefunden hat: die Küsten des Mittelmeers und des Atlantiks.
 

Fast täglich fuhr Baron mit einer alten 8-mal-10-Inch-Plattenkamera an die Strän - de, nur um ein gutes Stück Himmel und einen Ausschnitt des Meers festzuhalten. Das Motiv war immer dasselbe: zwei Farben Blau, die sich genau in der Mitte begegnen, also am Horizont. Dieser wirkt wie eine Spiegelachse. Geometrisch exakt schafft er ein Gleichmaß in endloser Weite. Fabien Baron besitzt zahlreiche solcher Meeresansichten. Alles Langzeitbelichtungen, gestauchte Zeit. Blicke in die Endlosigkeit – so lange zusammengepresst, bis von Wasser und Himmel kaum mehr als zwei Farbfelder geblieben sind. Über 3000 Negative sollen sich in Barons Sammlung befinden, gut 100 hat er für das Buch abgezogen.
 

Dabei ist Baron in der Geschichte der Kunst freilich nicht der Erste, der sich mit der Faszination maritimer Dimensionen beschäftigt hat: Herrlich sei es, meinte etwa Heinrich von Kleist 1810, „in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer auf eine unbegrenzte Wasserwüste hinauszuschauen“. Der Dichter schrieb diesen Satz, nachdem er auf einer Akademieausstellung Caspar David Friedrichs Gemälde „Mönch am Meer“ gesehen hatte. Und vermutlich durfte Kleist damals dasselbe erkennen wie fast 200 Jahre danach Fabien Baron: Das Meer ist wie ein Fenster in himmlischere Gefilde. Vor seiner Unveränderlichkeit ist die Ewigkeit ein Tag, und ein Tag mehr als eine Ewigkeit. Zeiten und Formen lösen sich in der Gegenwart des Meers nahezu auf. Mögen Fotografen wie Michael Wesely oder Hiroshi Sugimoto in einigen ihrer Arbeiten ähnliche Effekte erzielt haben – keiner hat die Zeit bisher so konsequent gepresst und gesammelt wie Fabien Baron. Seine Bilder schauen zurück auf eine Welt im Urzustand. Wäre Gott Fotograf, er würde sich auf Meeresflächen konzentrieren.

Fabien Baron: „Liquid Light 1983–2003“. Steidl
Verlag 2008. 192 Seiten. 70 Euro