Ideen-Kolumne

Ungelegte Eier (13)

Ungelegte Eier

Monopol-Kolumnist Friedrich von Borries kann coronabedingt keine Gäste empfangen und vertieft sich stattdessen in zwei Bücher, die Antworten auf die Herausforderungen dieser Krise bereithalten

In Zeiten der Kontaktsperre kann man keine Menschen einladen. Und über Zoom kann man nicht gemeinsam essen. Dabei hatte ich mir schon ein schönes Ostermenü überlegt, mit Pesto aus Mohrengrün und anderen Köstlichkeiten für Hasen. Geht nicht. Ich habe also eine andere Idee. Statt echten Gästen stelle ich mir welche vor. Zum Beispiel die Autoren der beiden Bücher, die ich gerade lese. Klingt spannend, dachte ich mir, klappt aber überhaupt nicht.

Home-Office ist total ineffektiv, ich komme kaum zum Lesen. Nach jeder halben Seite will ein Kind irgendwas. Und das mit dem Sich-etwas-vorstellen klappt auch nicht so recht, weil meine Imaginationskraft total lahmgelegt ist. Sie wird vollkommen davon okkupiert, sich exponentielles Wachstum vorzustellen.

Anyway, ich versuche es trotzdem. Nochmal Tee kochen, einen ruhigen Moment finden. Und dann die beiden Bücher raus, die mich derzeit beschäftigen. "Es gibt keine kulturelle Identität" von dem französischen Sinologen François Jullien und "Alles unter dem Himmel" von dem chinesischem Philosophen Zhao Tingyang.

Gemeinschaft von Subjekten

François Jullien entfaltet ein schönes Argument. An die Stelle der "kulturellen Identität", also etwas, das man vermeintlich besitzen kann, setzt er das Bild der "kulturellen Ressource", die man, wie er schreibt, "ausbeuten" oder, was ich als Begriff schöner finde, "aktivieren" könne. Diese Ressource entsteht in einem bestimmten zeitlichen und räumlichen Kontext, steht dann aber allen Menschen und Zeiten zur Verfügung. Die westliche Idee der Universalität sei eine solche Ressource – eine unter vielen. Eine andere damit korrelierende Ressource sei das Konzept des Subjekts, das er scharf abgrenzt vom Individuum; während das Individuum etwas Vereinzeltes sei, sei das Subjekt etwas, das seine Stimme erhebt, um mit anderen in Kontakt zu treten, eine Gemeinschaft von Subjekten zu bilden.

Diese Überlegungen finde ich in Zeiten, in denen das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft neu definiert wird – aktuell wegen der Coronakrise, perspektivisch hoffentlich auch wegen der Herausforderungen der globalen ökologischen Krise – sehr bereichernd.

Interessant ist aus dem selben Grund auch Zhao Tingyangs "Alles unter dem Himmel", interessant, aber auch erschreckend, weil er, soweit ich es bisher verstehe, eine "aufkeimende globale systemische Macht" imaginiert, die aus der "Dreieinigkeit von Kapital, Technologie und Dienstleistung" besteht. Diese "systemischen neuen Mächte könnten dafür sorgen, dass Wissenschaft und Technik zur zukünftig einzelnen Religion werden, die skrupellos alle kulturellen Tabus durchbricht", so Zhao Tingyang, eine Perspektive, die vor dem, was man über die Coronakrise liest, eine erschreckende Plastizität bekommt.

Keine berauschenden Perspektiven

Mir wird, wie man sich vorstellen kann, dabei schwindelig, ich versuche mich an meiner Teetasse festzuhalten, eine Teetasse, die keine Teetasse ist, sondern eigentlich eine "Dip-Schale". Entworfen wurde sie von Walter Gropius, der Alles-Planer, aber ich mag die Henkel seiner Teetassen nicht und trinke deshalb aus der "Dip-Schale", was auch immer eine "Dip-Schale" ist. Ich halte mich also nicht nur an der Tee-"Dip-Schale" fest, sondern vor allem an der Vorstellung, über die Gestaltung der materiellen Welt, durch Design, Architektur und Kunst, gesellschaftlich etwas bewirken zu können.

Jullien differenziert auch das "Gemeinsame" gegenüber dem "Gleichförmigen", wobei wir bei Gropius als Alles-Planer eher auf das "Gleichförmige" treffen als auf das "Gemeinsame", das zu erstellen die klassische Moderne zwar angestrebt, aber nie erreicht hat. Schön finde ich die Tee-"Dip-Schale" trotzdem. Ich "verteidige", um mit François Jullien zu sprechen, eine kulturelle Ressource der Moderne – das Konzept der Schönheit – gegen die zukünftige systemische Macht.

Auch in Zhao Tingyangs  Zukunft droht die Herrschaft des Gleichförmigen, er spricht von der "universellen technologischen Diktatur", der "Hegemonie des Imperialismus", oder, als Alternative, einer "übergeordneten universellen Weltordnung". Alles keine besonders berauschenden Perspektiven.

Es werden bessere Zeiten kommen

Das Lesen von Texten ist, zumindest bei mir, nie frei von der Situation, in der ich mich befinde. Und so liest sich auch François Julliens vorletztes Kapitel nicht optimistisch, sondern dystopisch. Denn er beschreibt, das für das "Gemeinsame" "Abstand" nötig sei, eine Haltung, die ich intellektuell nachvollziehen kann, bei mir das Wort "Abstand" derzeit aber nur lauter Corona-Bilder hervorruft, irgendetwas zwischen Leichensäcken, Schutzanzügen und Gesichtsmasken. Ich kann mir die "erfinderische Kraft des Abstands, (die) den Weg zu einem intensiven Gemeinsamen eröffnen" soll, zurzeit einfach nicht vorstellen. Meine Gedanken kreisen, François Julliens Kritik am Universalismus, der "durch seine triumphierende Rationalität (…) kolonialisiert", trifft auf meinen Tee, der Produkt des Kolonialismus ist, meine Tee-"Dip-Schale", die Ergebnis einer gestalterischen Rationalismus ist, und auf Zhao Tingyangs "Universalismus", der die Rettung von der "technokratischen Diktatur“ sein soll.

Der Tee ist inzwischen kalt und auch die Teetasse kann mir in all ihrer Schönheit nicht helfen. Außerdem wollen die Kinder Blinde Kuh spielen oder wenigstens auf das Piratenschiff. Ich trinke meinen kalten Tee aus. Die Zukunft erscheint mir gerade sehr dunkel. Aber es werden bessere Zeiten kommen.