Die Ideen-Kolumne

Ungelegte Eier (17)

Soll man sich der Neugier auf etwas Unbekanntes hingeben oder besser vertiefen, worin man schon eine Expertise hat? Monopol-Kolumnist Friedrich von Borries diskutiert mit Architekturtheoretikerin Sandra Meireis und Medienwissenschaftler Christian Hiller

Endlich wieder Gäste, diesmal Sandra Meireis und Christian Hiller. Aber nicht mehr so viel Essen wie früher. Denn mich hat es in der Covid-Zeit genervt, dass es überall so viel um Nahrungszubereitung ging. Brotbacken und so. Das hatte sowas Biedermeierliches. Aber ein bisschen was zu essen soll es natürlich geben und auch was zu trinken, auch wenn ich gerade beschlossen habe, ein Jahr keinen Alkohol zu trinken. Allerdings hat dieses Vorhaben bei dem Essen eine kleine Delle bekommen.

Das also zu den veränderten Rahmenbedingungen, nun zu meinen Gästen: Christian Hiller ist Film- und Medienwissenschaftler, zumindest hat er das studiert, Kurator und Redakteur der Architekturzeitschrift "Arch+". In der von ihm co-kuratierten Ausstellung "Cohabitation" im Berliner Ausstellungsraum Silent Green ging es um das solidarische Zusammenleben von Menschen und Tieren in der Stadt, in der von ihm mitverantworteten Ausstellung "Contested Modernities", die aktuell im Berliner Kreativlabor Haus der Statistik zu sehen ist, um postkoloniale Architektur in Südostasien. Aber da das beides keine ungelegten Eier sind, reden wir darüber kaum.

Kürbis

Sandra Meireis ist Architekturwissenschaftlerin und unterrichtet an der Universität Kassel. Sie hat Anfang dieses Jahres das beeindruckende Buch "Mikro-Utopien der Architektur" vorgelegt, was hiermit allen Architekturinteressierten und Utopie-Suchern anempfohlen sei. Auch darüber reden wir nicht. Aber ihr ungelegtes Ei hat natürlich mit Architekturgeschichte zu tun.

Doch dazu später mehr, wir beginnen mit Christian Hiller. Mit ihm verbindet mich eine lange Geschichte, er war schon 2008 in Matthias BöttgersTeam des deutschen Beitrags der Architekturbiennale, und auch danach haben wir viel gemeinsam gemacht.

Zu den ungelegten beziehungsweise angebrüteten Eiern von Christian Hiller gehören nicht abgeschlossene Dissertationen, drei Stück insgesamt: eine vor 20 Jahren über Videoblogs, ein Medium, dass damals noch ganz jung war, eine über den Filmemacher Jonas Mekas und dann noch eine über die Frage, wie man Filme ausstellt. Aus allen drei Versuchen ist zwar – aus unterschiedlichen Gründen – keine Dissertation geworden, aber inhaltlich war es trotzdem produktiv. Und ich breite das hier so aus, weil ich als Hochschullehrer sagen kann: Abgebrochenen Dissertationen kommen sehr häufig vor und sind genauso häufig ein Tabuthema. Und genau deshalb muss man es thematisieren. Eine Dissertation abzubrechen, ist kein Drama, sondern nur eine von den vielen Wendungen in einem Lebensweg. Und ich war bei zwei Anläufen von Christian Hiller sein Betreuer, in gewisser Weise sind es also gemeinsame, nicht ausgebrütete Eier.

Doch Christian Hiller hatte noch mehr Eier im Gepäck. Zum Beispiel, dass er das Thema Cohabitation noch weiter brüten will. Die Ausstellung war erfolgreich und ist abgeschlossen, aber das Thema halt noch nicht zu Ende.

Rote Beete

Sandra Meireis ungelegtes Ei ist die Architekturgeschichte als solche. Als jemand, die versucht, Architekturgeschichte an Studierende zu vermitteln, steht sie vor der Frage: Was ist eigentlich Architekturgeschichte und wie kann man sie anderen näherbringen? Auf der einen Seite ist sie eine Befürworterin eines Kanons, findet es gut, wenn junge Menschen mal so jemanden wie Vitruv begegnen, auf der anderen Seite interessiert sie sich auch für die Frage, wie sich Architekturgeschichte vor dem Hintergrund identitätspolitischer und postkolonialer Fragestellungen verändert, erweitert, verschiebt – und wer dann mit welchem Recht über welche Architekturgeschichte sprechen kann.

Eine Frage, die ich interessant und wichtig finde – die wir aber bei diesem Essen natürlich nicht abschließend erörtern können. Wir werden es fortsetzen. Aber über das Thema "Geschichte" und die Frage, was man wann wie erzählen kann, welche Rückbetrachtungen Sinn machen und uns etwas über mögliche Zukünfte erzählen, kommen wir wieder zu Christian Hillers letztem ungelegtem oder dauergebrütetem Ei. Nächstes Jahr wird Jonas Mekas 100 Jahre alt – und Christian Hiller weiß noch nicht, ob er weiterbrüten soll oder das Thema "Jonas Mekas" nach zahlreichen Ausstellungen, Veranstaltungen, Publikationen, an denen er beteiligt war, für sich als abgeschlossen betrachten möchte. Eine Frage, vor der ich selbst auch immer stehe: Soll man sich der Neugier auf etwas Unbekanntes hingeben oder besser das vertiefen, worin man schon eine Expertise hat?

Birne

Irgendwann ist der Wein leer und das Essen zu Ende. Der Wein ist übrigens zu aufregend, um ihn nicht zu probieren. Denn er entspringt einer Mikro-Utopie des Weinbaus. Die Winzer von Kollektiv Z arbeiten nach anderen Zielvorstellungen als der übliche kommerzielle Weinbau und bewirtschaften vor allem alte Reben mit geringen Erträgen. Außerdem strahlt ihr Weingut die romantische Improvisation aus, die ich aus dem Berlin der 1990er-Jahre kenne – nur eben auf dem Land, und nicht in der Stadt. Keinen Wein trinke ich trotzdem weiter.

Jetzt habe ich alles geschrieben, was ich zu dem schönen Treffen mit Sandra Meireis und Christian Hiller sagen wolle, auch wenn nicht alles einen konsistenten Zusammenhang bildet. Fehlt nur noch ein guter Schluss. Vielleicht was ich bei diesem Essen – neben vielem anderen – gelernt habe. Zum einen, dass man dicke Eier nicht alleine ausbrüten kann. So komplexe Angelegenheiten wie das Neuschreiben von Architekturgeschichte gelingt wohl besser in einem Kollektiv, das unterschiedliche Erfahrungen und Horizonte einbringt. Und zum anderen, das aus ungelegten Eiern irgendwann faule werden. Womit für dieses Mal die Ei-Metapher ausreichend strapaziert wurde.