Künstlerkonzertabend in Berlin

Virtuosität als Möglichkeit

Jeder kennt die schweifende Aufmerksamkeit, die sich bei einem Konzertbesuch, einer Opernaufführung oder einer Performance früher oder später einstellt: Man folgt dem Geschehen auf der Bühne, lauscht den Klängen und Worten und ist doch ganz woanders, schlimmstenfalls bei der Steuererklärung. Die Architektur der meisten Konzerthäuser versucht, solchen Fluchten möglichst wenig Raum zu geben: Unser Blick geht zur Bühne, der Rest ist dunkel. Nicht so die Berliner Philharmonie, dieses nach innen gewendete Universum organischer Formen, in dem kein rechter Winkel existiert und in der die Trennung zwischen Publikum und Orchester weitgehend aufgehoben ist.

Die Architektur von Hans Scharoun ist so gesehen stets präsent, sie lässt sich nicht ausblenden. Wenn man, wie jetzt, am Walpurgisabend, bildende Kunst in der Philharmonie stattfinden lässt, geht das noch weniger, denn dort ist man es gewohnt, Verbindungen herzustellen zwischen dem, was man sieht, und dem umgebenden Raum. Augustin Maurs, der Organisator des Konzertabends „Virtuosity“, bezieht sich mit dem Titel auf den romantischen Performer, der im bürgerlichen Zeitalter die immer größeren Zuschauermengen durch sein „dämonisch gutes“ Spiel zu fesseln vermochte – ob er nun Paganini heißt oder Lang-Lang. Es geht hier aber nicht darum, diesen Topos zu bestätigen, sondern ihn zu hinterfragen.

Eingeladen hat der Musiker und Komponist Maurs daher nicht die Namen des internationalen Konzertbetriebs, sondern Künstler, denen man sonst eher auf Biennalen und in Museen begegnet: Klara Lidén, Tino Sehgal, Olaf Nicolai, Saadane Afif und Annika Larsson, unterstützt unter anderem vom Chor der Kulturen der Welt und der Sopranistin Truike van der Poel. Das Medium der Arbeiten ist dabei nicht notwendigerweise Musik, immer aber die Zeit.

Auf der Galerie des Foyers haben sich drei Performer auf dem cremefarbenen Teppichboden niedergelassen. Sie führen eine Arbeit von Tino Sehgal auf („yet untitled work in progress“), die daraus besteht, dass zwei, drei oder vier Menschen in wechselnden Konstellationen autistisch vor sich hin brummen. Oberköper, Arme sowie die Stimmen sind ihre Ausdrucksmittel: von Beatbox-artigen rhytmischen Geräuschen bis zu verschlucktem Gesang reicht das Repertoire der Performer, die sich durch keine äußeren Merkmale von den Zuschauern unterscheiden lassen. Mit größter Beiläufigkeit steigen sie in die Performance ein und wieder aus, sitzen, machen eine Pause, plaudern mit Sehgal, der wiederum Freunde begrüßt und verabschiedet. Das Publikum wird nicht angesprochen oder einbezogen, wie zuletzt auf der Documenta oder in der Tate Modern. Etwas weniger Beiläufigkeit und mehr Intensität hätte der Arbeit gut getan, denkt man und steigt in den Saal hinauf.

Hier hat seit einer Stunde die südafrikanische Künstlerin Tracey Rose die Bühne in Beschlag genommen: Ein halbes Dutzend barfüßiger Menschen bildet einen losen Kreis um die Künstlerin, die in einer zweifarbigen Leggings und einem weiten Walletuch umherläuft und dabei Geräusche von sich gibt, als stiege sie in ein zu heißes Bad. Die Zuschauer kommen und gehen während auf der Bühne etwas stattfindet, das sich irgendwo zwischen Feldenkrais und Teufelsaustreibung verorten lässt. Karikiert Rose die Selbsterfahrungsgruppen der 70er? Ist der Dialog mit dem Publikum Teil der Arbeit? Es zieht sich jedenfalls. „Who laughed?“ fragt Rose einmal schneidend ins Publikum, das sich einer gewissen Heiterkeit nicht entziehen kann. Der Blick wandert im Kammermusiksaal umher, dessen berückende Schönheit in seltsamen Kontrast zu der dürftigen Vorstellung auf der Bühne steht. Plötzlich setzt Applaus ein, obwohl der Auftritt nicht zu Ende ist. „It‘s enough!“ ruft eine Frau aus dem Publikum. „Why?“ fragt die Performerin. „It‘s one hour now.“

Auf Rose folgt Christoph Kellers „Music for Clouds“: Eine Art Strahlenkanone aus Kupferrohr und Schläuchen wird auf die Bühne geschoben, der Musiker Theo Nabicht tastet die Apparatur mit einem Mikrofon ab, wobei es Rauscht und Summt. Im Saal herrscht absolute Stille, der Applaus ist anhaltend. Auch die Kompositionen von Olaf Nicolai werden goutiert, allerdings dünnt das Publikum danach schnell aus. Auf dem Weg nach draußen kommt man wieder bei Sehgal vorbei. Seine Performance geht weiter, man kann sie ansehen oder auch nicht, manche liegen dabei nun flach, wie träumend. Virtuosen, die unsere Aufmerksamkeit nicht fesseln, sondern als Möglichkeit anbieten, sind offenbar beliebter.