30 Jahre Verurteilung Otto Muehls

Eine Utopie für wen?

Mit der Kunst aufhören, damit alles Kunst werde! Die vermeintliche Utopie des Künstlers Otto Muehl endete in einem Desaster: Vor 30 Jahren wurde der Kommunengründer wegen Kindesmissbrauchs verurteilt

Mutter, Vater, Kind: Die Kernfamilie hat gesiegt. Heute ist eine intakte bürgerliche Kleinfamilie ein größeres Statussymbol als Auto, Fernreise oder sonst ein Luxusprodukt. In Zeiten unsicherer Lebens- und Arbeitsverhältnisse bietet die Familie Halt und Rückzugsmöglichkeit. Und der Elternstatus ist unkündbar. 

Mit welchem Furor die Kleinfamilie nach 1968 bekämpft wurde, kann man sich deshalb kaum noch vorstellen. Sie galt ihren Widersachern – in Deutschland zumeist Kindern von ehemaligen NS-Bürgern – als Nukleus der Gesellschaft, in dem sich deren Fehler immer von Neuem reproduzieren. "Wer den Krieg abschaffen will, muss zuerst die Kleinfamilie beseitigen", schrieb der Künstler Otto Muehl. Sein Versuch, bürgerliche Autoritäten aufzubrechen, scheiterte grandios: Vor genau 30 Jahren, am 14. November 1991, wurde Muehl im österreichischen Eisenstadt wegen sittlicher Gefährdung Minderjähriger und Vertsöße gegen das Betäubungsmittelgesetz zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. 

Muehl hatte sich als Wiener Aktionist in den 60er-Jahren mit radikalen Performances einen Namen gemacht. Als selbst die Bilderstürmerei zu langweilen drohte, erklärte er das gesamte Leben zur Kunst und gründete Anfang der 70er-Jahre eine Kommune, die ihren Hauptsitz im burgenländischen Friedrichshof fand. Dort leitete er diese Aktionsanalytische Organisation (AAO) genannte Gemeinschaft, die zu ihren besten Zeiten aus über 600 Mitgliedern bestand. Die Utopie: Befreiung und Überwindung von Zweierbeziehungen und der Kleinfamilie durch Kollektiveigentum, Gruppensex und Performance-Therapie. 21 Jahre lang hielt die Kommune, 1990 wurde sie aufgelöst.

Die vielen Kinder, die in der Kommune geboren wurden, wurden von Otto Muehl und den Kommunarden gemeinschaftlich erzogen. Die Kindheit der Kommunenkinder war geprägt von den häufig als demütigend empfundenen "Selbstdarstellungen" vor den Kommunarden (Auftritte zu "therapeutischen" Zwecken), der Abwesenheit von Müttern und den Ideologien der Organisation, die Züge einer Religionsgemeinschaft trägt.

Schwarze Pädagogik als Kern der Ideologie

Eine alternative und radikale – heute muss man hinzufügen: schwarze – Pädagogik war Kern dieser Ideologie. "Ein Elternpaar ist allein kaum in der Lage, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen“, hieß es in einer Schrift von 1976. "In der Gruppe sind außer der Mutter alle Gruppenmitglieder für die Betreuung der Kinder verantwortlich. Sie entlasten die Mutter, außerdem hat das Kind die Möglichkeit, zu vielen intensive Beziehungen herzustellen. Nur so erblickt das Kind in der Gruppe eine zweite Mutter, die ihm Geborgenheit und existenzielle Sicherheit verbürgt. So können sie unabhängige, freie, nicht fixierte Menschen werden."

Teil der Erziehung war auch die sexuelle Initiation, die Kinder ab 14 über sich ergehen lassen mussten: Mädchen mit Muehl, Jungen mit dessen Frau. Selbst die Anklage wegen Missbrauch verwandelte der Künstler in Kunst: Er sammelte die Tagebücher der Kinder und Kommunarden ein, verbrannte das möglicherweise belastende Beweismaterial und machte aus der Asche neue Bilder.

Sieht man heute Archivmaterial, verwundert es, wie viel Macht der 2013 verstorbene Muehl in der streng hierarchischen Struktur der Kommune auf sich ziehen konnte. Er wirkt so wenig charismatisch, sondern eher bizzar wie der Joker, diese unberechenbare, weil irre Comicfigur: ein Schurke, ein Hochstapler, jemand, der sein persönliches Unglück besser verträgt, wenn er es kollektiviert. Er bewertet die Kinder bei ihren "Selbstdarstellungen", kippt einem schon weinenden Kind Wasser über den Kopf und fordert es zum Singen auf. Muehls Sadismus ist offensichtlich - warum wurde er nicht erkannt von seinen Jüngern?

Viele ehemalige Kommunarden und Kommunardinnen, die sich heute in einer Genossenschaft organisieren, arbeiten ihre Vergangenheit auf, auch die eigene Verführung durch Otto Muehl. Ein bewegender Moment des Dokumentarfilm "Meine keine Familie", der 2013 von ehemaligen Kommunenkind veröffentlicht wurde, zeigt wie Frauen sich bei den mittlerweile erwachsenen Kindern entschuldigen. Eine viel zu späte Einsicht, ein viel zu spätes Bedauern.

Der Fall Muehl lehrt uns, vorsichtig zu sein, wenn Künstlerinnen und Künstlern den Bereich der Zeichen und der Kunst verlassen, um auf das Leben einzuwirken. Die alte Avantgarde-Idee von der Verschmelzung von Kunst und Leben ist indes weiterhin attraktiv: Die vielen Kollektive, vom Documenta-Kuratorenteam Ruangrupa bis zu den aktuellen Turnerpreis-Nominierten, sind ihr auf sozial engagierter Weise verpflichtet. Ideologien und Künstleregos haben bei ihnen allerdings keinen Platz mehr.