Lübcke-Prozess

Wie umgehen mit Material aus Verhören?

Unfreiwilliges Propagandavideo oder Beweismittel?
Screenshot: Youtube/STRG_F

Unfreiwilliges Propagandavideo oder Beweismittel?

Ein Ableger des NDR-Formats "Panorama" hat der Redaktion zugespielte Video-Ausschnitte aus zwei Verhören des mutmaßlichen Mörders von Walter Lübcke gezeigt. Widerrechtlich, sagt Strafverteidiger Gerhard Strate. Aber nicht nur deshalb findet er die Ausstrahlung empörend

"Ich finde, es sieht so ein bisschen aus, wie man sich das so aus amerikanischen Crimeserien vorstellt!", frohlockt NDR-Journalist Nino Seidel. Gemeint ist die Aufnahme der polizeilichen Vernehmungen von Stephan Ernst, dem rechtsextremistischen mutmaßlichen Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, die Seidel und seinem Kollegen Julian Feldmann "zugespielt" worden waren.

Ihr mit reichlich Crimedeko und eigener Rechtfertigung garnierter Zusammenschnitt des mehrere Stunden umfassenden Materials findet sich auf dem YouTube-Kanal STRG_F, einem wöchentlichen Doku-Format und Ableger von Panorama, das der NDR zum Content-Netzwerk Funk der öffentlich-rechtlichen Medien beisteuert. Immerhin 45 Millionen Euro Beitragsgelder pro Jahr fließen in besagtes Netzwerk, dessen über 60 Onlinekanäle nahezu jeden niedrigen Instinkt der Zielgruppe bedienen und aufzeigen, dass es für den Schritt in die Grauzone immer einen scheinbar edlen Grund gibt.

"Fick die Cops"

So war es ebenfalls das Funk-Format STRG_F, das seine Zuschauer schon 2018 an einem künstlerisch wertvollen "Chor-Experiment" zum Thema Polizistenhass teilhaben ließ. Herausgekommen ist ein Konglomerat nahezu kirchenmusikalisch klingender Absurditäten im kunstvollen Kontrapunktsatz, versehen mit dem Titel "Fick die Cops". "Wir haben die Rap-Texte einfach anders arrangiert, damit ihr euch einmal auf den Inhalt und nicht auf die Musik konzentrieren könnt", erklärt die Redaktion ihrem feixenden Publikum in der Videobeschreibung.

Denn es sei ein echtes Problem, dass mit solchen Texten seit Jahren Geld verdient werde. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das alleine sorgt dafür, dass Häme gleich noch einmal so viel Spaß macht: "Öffnet den Rotwein und genießt die feinen Stimmen und ihren Gesang über die Polizei", empfiehlt Funk denn auch fürsorglich seiner 14- bis 29-jährigen Zielgruppe.  

Junge Talente starten richtig durch

"Bei uns schwingt immer der öffentlich-rechtliche Auftrag mit. Das bedeutet, dass es bei uns keine Werbung und keine Produktplatzierungen gibt. So können wir jungen Talenten ermöglichen, Inhalte zu erstellen, die unabhängig von finanziellen und politischen Einflüssen sind", erklärt Funk selbstbewusst. Die jungen Talente des Studentenchors jedenfalls hatten erkennbar Spaß am Genre Polizistenhass.

Und auch die hoffnungsvollen Senkrechtstarter Nino und Julian können ihre kindliche Freude nur halb verbergen, wenn sie am beitragsfinanzierten Whiteboard mit rotem Filzstift und aufgesetztem Pokerface ihre belanglosen Analysen der Aussagen von Stephan Ernst vornehmen. "Ethisch-moralisch sozusagen haben wir ja schon so ein bisschen diskutiert, kann man ja sagen, irgendwie, weil was immer natürlich darüber schwebt, ist: Das ist ein Rechtsextremist, ein rechtsextremistischer mutmaßlicher Mörder. Bieten wir dem jetzt mit so 'nem Video eigentlich 'ne Bühne? 'Ne Bühne, die er vielleicht auch sucht?", schwurbelt Nino Seidel.

Die angebliche Einordnung findet nicht statt 

Um sein Gewissen kurz darauf selbst zu entlasten: Das Video sei schließlich kein Propagandavideo, sondern ein Beweismittel. Und Julian Feldmann ergänzt, man habe sich dafür entschieden, den Film zu zeigen. Auch weil es schon jetzt ein "zeitgeschichtliches Dokument" sei. Im Interview mit Übermedien ergänzt STRG_F-Redaktionsleiter Dietmar Schiffermüller auf die Frage, ob das Video nicht eine emotionale Identifizierung mit dem Täter ermögliche: "Das bewerte ich anders. Weil wir es nicht einfach nur offen stehen lassen, sondern einordnen."

Was die Redaktion unter Einordnung durch "zwei unserer besten Experten in diesem Bereich, Nino Seidel und Julian Feldmann" versteht, kann nur ungläubiges Kopfschütteln hinterlassen: Da werden Aussagen lustlos wiedergekäut und angebliche "Befunde" erhoben, die sich allenfalls unter dem Begriff Gemeinplätze subsumieren lassen. Dass jeder normalbemittelte Zuschauer derartige Schlüsse auch ohne solch betreutes Denken ziehen könnte: geschenkt. Die angebliche journalistische Einordnung jedenfalls, welche die Redaktion zur Rechtfertigung der Veröffentlichung heranzieht, findet in der behaupteten Form so gut wie gar nicht statt.   

§ 58a StPO – eine klare öffentlich-rechtliche Verbotsnorm 

Die Strafprozessordnung zieht klare Linien, wenn es um den Umgang mit Bild-Ton-Aufzeichnungen von Vernehmungssituationen geht: Hinsichtlich des Beschuldigten gilt der seit dem 1. Januar 2020 anwendbare § 136 Abs. 4 StPO. Diese Vorschrift verweist auf die Beschränkungen in § 58a StPO, die ursprünglich nur für die Videoaufzeichnung von Zeugenvernehmungen installiert worden war. Diese Videoaufzeichnungen dürfen an den Verteidiger (§ 147 StPO) beziehungsweise an den Verletztenvertreter (§ 406e StPO) herausgegeben werden.

Daran schließt aber das unmittelbare Verbot an: Die Kopien dürfen weder vervielfältigt noch weitergegeben werden. Im letzten Satz von § 58a Abs. 2 StPO heißt es ausdrücklich: Die Überlassung der Aufzeichnung oder die Herausgabe von Kopien an andere als die vorbezeichneten Stellen bedarf der Einwilligung des Zeugen (hier: des Beschuldigten). § 58a Abs. 2 Satz 4 (Verbot der Weitergabe an Dritte) ist eine klare öffentlich-rechtliche Verbotsnorm, die selbstverständlich die öffentliche Übertragung im Fernsehen und im Internet einschließt.

Der Angeklagte wurde nicht gefragt

Die in dem Beitrag vorgetragene Argumentation der Journalisten, die Videos seien ja bereits in der Hauptverhandlung gezeigt worden und damit in der Öffentlichkeit, kann deshalb keinen Bestand haben. Auch wenn die Veröffentlichung im Hinblick auf § 353d Nr. 3 StGB wegen der zuvor erfolgten Vorführung in einer öffentlichen Hauptverhandlung nicht strafbar ist, so verstößt sie dennoch gegen eine gesetzliche Verbotsnorm. Auf Anfrage erklärte der Redaktionsleiter von Panorama, Dietmar Schiffermüller, Stephan Ernst sei eine Person der Zeitgeschichte, eine Anfrage sei deshalb nicht erfolgt und nicht notwendig gewesen. Das war ein Irrtum. Der NDR hat das Gesetz ignoriert. Doch weil dieser Verstoß nicht strafbar ist, muss er keine Konsequenzen fürchten.

Dabei hätte sich eine Anfrage bei dem sich zumindest anfangs zum Mord an Walter Lübcke bekennenden Stephan Ernst schon aus Gründen des Anstands verboten, ebenso wie die Ausstrahlung des Videos selbst. Anstand ist allerdings eine zivilisatorische Errungenschaft, die bei vielen Zeitgenossen aus der Übung gerät. Zur Wahrheitsfindung jedenfalls trägt die öffentliche Zugänglichmachung von Vernehmungsvideos nichts bei, im Gegenteil: Noch ausstehende Zeugen könnten durch die Betrachtung der Videos in ihrer Aussage unwillkürlich empfindlich beeinflusst werden.

Was sagen die Angehörigen des Opfers?

Und Beschuldigte in späteren Strafverfahren: Werden sie künftig eine gelungene Show vor der Kamera abziehen in dem Bewusstsein, dass die Aufzeichnung eines Tages im Netz kursieren wird? Werden exaltierte Gemüter ein eventuelles Geständnis sogar mit schaurigen fiktiven Details anreichern und sich im Tausch gegen mögliche 15 Minuten der Berühmtheit nach Big-Brother-Manier um Kopf und Kragen reden?

Vergessen wir auch nicht die Familienangehörigen des Opfers: Wie schmerzhaft muss es sein, sich die verschiedenen Einlassungen des Beschuldigten anzuhören, immer und immer wieder? Denn entziehen kann man sich als unmittelbar Betroffener dem Video wohl kaum. Nur äußerst sensationsgeile Journalisten können aus derartigen publizistischen Streichen ohne Rücksicht auf solche Verluste ihren Nektar ziehen.

Ein Scoop unter dem Deckmantel des Programmauftrags 

Der ultimative Scoop in unmittelbarer Reichweite korrumpierte im vorliegenden Fall wohl den Verstand. Vielleicht sorgte auch einfach der kürzlich an STRG_F verliehene Grimme Online-Award für einen gewissen Übermut. Fakt ist: Der korrekte Umgang gerade mit Beschuldigten ist eine Kernerrungenschaft unserer Kultur.

Ein Vernehmungsvideo aus reiner Sensationslust der voyeuristischen Öffentlichkeit zum Fraß vorzuwerfen, legt die Axt an die Wurzeln des Rechtsstaats und ist eine höchst bizarre Auslegung des so häufig ins Feld geführten "Programmauftrags" der öffentlich-rechtlichen Medien. Dass sich diese Vorgehensweise gerade deshalb zum Standard entwickeln könnte, ist angesichts der aktuellen politmedialen Gemengelage leider zu befürchten.