Anders Petersen

"Wir sind doch alle ein bisschen verrückt"

Im Mittelpunkt steht der Mensch. Für seine 1967 begonnene Serie „Café Lehmitz“ lebte, litt und trank der schwedische Fotograf Anders Petersen, Jahrgang 1944, über Jahre mit Stammgästen einer Reeperbahnkneipe. Der 1978 bei Schirmer/Mosel erschienene Fotoband verschaffte ihm den Durchbruch - ein Bild der Serie ziert das Album „Rain Dogs“ von Tom Waits. Orte und Menschen, um die andere Leute einen Bogen machen, haben Petersen immer fasziniert. Bilder seiner in den 90er-Jahren entstandenen Serie „Mental Hospital“ sind jetzt in Berlin zu sehen

Herr Petersen, wie sind die Aufnahmen für die Serie „Mental Hospital“ entstanden?
Ich bin über Jahre in verschiedenen psychiatrischen Kliniken gewesen. An diesen Orten habe ich zunächst ein halbes Jahr lang fotografiert, lauter dramatische Szenen, und dann beim Entwickeln der Bilder gemerkt, dass ich nur dokumentarische Lügen produziert hatte. Dann habe ich neu angefangen, mich auf die Suche nach dem Normalen, den Sehnsüchten dieser Menschen gemacht, ihrer Zärtlichkeit. Das ist überhaupt mein Ansatz. Ich will keine Seltsamkeiten, die uns separieren. Mir geht es um Identifikation.

Ist es leicht, an so einen Ort zu gehen?
Wir sind doch alle ein bisschen verrückt. Die einen funktionieren in der Gesellschaft, die anderen nicht. Dazwischen ist ein schmaler Grat. Etwas anderes sind Menschen mit wirklich heftigen psychischen Erkrankungen – mit solchen Leuten hatte ich es hier nicht zu tun. Jedes Bild hat seine eigene Geschichte. Sehen Sie den Mann, der eine Sternenlampe trägt? Ich habe schon immer Sterne gemocht und ihn gefragt, ob ich ein Foto von ihm machen darf. Seine Sternenlampe sollte unbedingt mit drauf sein. Das war mir nur recht. Oder das Bild mit dem Titel „Lucia“. Die abgebildete Frau trägt eine Kerzenkrone auf dem Kopf, wie es bei uns in Schweden auch zum Luciafest üblich ist, am 13. Dezember, zu einer dunklen Zeit. Die Frau lief andauernd mit ihrer Kerzenkrone auf dem Kopf herum, mitten im April. Sie forderte mich dazu auf, das Bild zu machen. Sie war sehr dominant. Ein interessanter Typ war auch der Mann im Bett, auf dem Nachttisch bilden die Zigarettenkippen ein eigenartiges Muster. Er rauchte definitiv zu viel, sprach viele Sprachen, las Baudelaire, war sehr gebildet. Dann ist in dieser Ausstellung noch eine Frau mit Zigarettenqualm im Gesicht zu sehen. Sie war förmlich erstarrt, wie eine Statue. Solche Leute sind in ihrer inneren Welt gefangen, sie sprechen zu Heizkörpern oder zu Vorhängen. Früher sah man solche Kranken überall, bevor in den 50ern spezielle Medikamente aufkamen. Heute ist dieser Anblick selten geworden.

Stellt Sie das Ablichten solcher Menschen, die vielleicht nicht alles um sich herum mitbekommen, vor moralische Probleme?
Erstens wissen diese Leute genau, was mit ihnen passiert. Außerdem war ich in ganz Schweden unterwegs, um die Bilder den Familien zu zeigen. Die hatten dann das Recht, die Bilder abzulehnen. Siebenmal bin ich zensiert worden, für mich eine hohe Quote. Es war auch schade, weil ich die zensierten Bilder sehr mochte. Ich hole grundsätzlich die Erlaubnis zur Veröffentlichung ein, egal, ob es sich um ein Gefängnis oder ein Altenheim handelt.

Hat sich Ihr fotografischer Ansatz im Lauf der Jahre verändert?
Es geht nach wie vor um Identität. Wer bin ich? Die Antworten auf solche Fragen sind mir eher egal, weil die Fragen interessanter sind. Ich möchte mehr über mich und andere erfahren, über Träume, Albträume, innere Wunden, Erinnerungen.

Ich finde auch, dass Ihre Bilder etwas von fotografierten Träumen haben. Wie kann man derart expressive Bilder machen, die doch so merkwürdig still wirken?
Paradox, nicht? Es hat wohl viel mit meiner Herangehensweise zu tun. Ich bin ein bisschen wie ein Jäger, der seine Beute isoliert. Ich will zum Wesen der Menschen vordringen und kann das Drumherum nicht gebrauchen, das ist zu offensichtlich. Das Beiwerk nehme ich weg.

Sind sie ein Abenteurer?
Sie müssen sich das Künstlerdasein wie eine Pyramide vorstellen. Der untere Bereich, die Basis ist die Sicherheit, die Familie, das Private, gutes Essen und Fernsehen. Aber um etwas Besonderes zu schaffen, muss man sich und seine Sinne schärfen. Ich glaube nicht, dass Meisterwerke im unteren Teil der Pyramide entstehen. Du musst nach oben, alleine, ohne Absicherung, was manchmal wehtut. Die Luft da oben ist dünn.

Klingt nach Bergsteigen.
Ja, ja, ja! Nur oben öffnest du dich, atmest durch. Und immer wieder nimmst du den Fahrstuhl runter, zur Familie, die natürlich sehr wichtig ist.

Sie gehen Risiken in Ihrer Arbeit ein.
Das tut jeder Künstler. Vor allem aber muss Kunst glaubwürdig sein. Ich glaube weniger an gute oder schlechte Fotografie – mehr an die Frage, ob sie glaubwürdig ist oder nicht. Man muss das Temperament und die Persönlichkeit dahinter spüren.

Sie arbeiten als Dozent ja auch mit jungen Fotografen zusammen.
Ich bin so glücklich über die Entwicklung. Und lerne sehr viel von meinen Studenten.

Anders als noch vor zwei Jahrzehnten ist die Fotografie als künstlerisches Medium hoch akzeptiert. Ist es einfacher, heute Fotograf zu sein?
Sicher ist es leichter, als Fotograf und Künstler anerkannt zu sein. Die Fotografie bekommt heute mehr Applaus. Aber aufgrund der großen Konkurrenz ist es härter geworden. Vergleichen Sie die Situation mit den 60er-Jahren, inzwischen gibt es so viel mehr Fotografen! Was ich gut finde: Man ist nicht mehr so fixiert auf ein Medium. Ich selbst habe ja als Maler angefangen und dann die Kamera entdeckt.

Die Nachbearbeitung in der Dunkelkammer scheint Ihnen sehr wichtig zu sein.
Das ist ein zentrales Moment meiner Arbeit. Ich kann ja nicht bloß das Negativ unter das Kopierlicht legen und dann Schluss. Ich feile solange am Bild, bis es eine Verbindung gibt zwischen dem Bild und meinem Magen und meinem Herzen. Wenn ich zum Beispiel Sie fotografiert habe … Natürlich respektiere ich Sie als eigenständige Persönlichkeit. Aber es geht mir auch um ein Bild von mir – durch Sie. Dadurch wird es glaubwürdig. Wenn ich nicht mein eigenes Temperament hinzu addiere, ist das Bild eine bloße Aufzeichnung, und eigentlich unbrauchbar. Als Gertrude Stein ihr von Picasso gemaltes Bildnis betrachtete, sagte sie: „Das bin nicht ich.“ Wissen Sie, mein Ansatz ist nicht sehr intellektuell, sondern eher emotional.

Ich kenne gar keine Farbfotos von Ihnen.
In den 70ern habe ich ein paar gemacht – und es dann gelassen. Es gibt so viele Farben im Schwarzweißbild, eigentlich mehr Farben als in der Farbfotografie. Denn: Ein Schwarzweißfoto regt die Vorstellungskraft stärker an.

Sie sind ja auch ein Verfechter der chemischen Fotografie. Rückt Ihnen die digitale Technologie nicht allmählich zu Leibe?
Das analoge Material wird weißgott sehr teuer. Und die Qualität nimmt ab. Aber ich fotografiere immer noch fast ausschließlich mit meiner alten Kleinbild-Sucherkamera Contax T3. Eine andere Sache ist die Herstellung digitaler Prints. Für eine Schau in New York im vergangenen Jahr wurden meine Negative gescannt und wir haben dann Drucke davon gemacht. Diese Prints der Serie „Mental Hospital“ sind aber alle analog in der Dunkelkammer entstanden. Letztlich sind die ganzen technischen Frage aber zweitrangig. Nicht die Fotografie ist das Wesentliche, sondern die gute Zeit, die man mit Leuten hat.

Haben Sie das von Christer Strömolm gelernt, Ihrem berühmten Lehrer, der 2002 gestorben ist?
Sicher. Und er war zuallererst ein Freund! Ich habe so viel von ihm gelernt. Sich für andere Menschen verantwortlich zu fühlen, zum Beispiel. Diskretion zu wahren, Geduld zu haben.

Was wollen Sie selbst weitergeben?
Ich möchte den jungen Menschen zur Selbstsicherheit verhelfen. Man muss erkennen, dass man etwas Einmaliges ist, und dass man stolz darauf sein kann. Erst dann kann man unverzagt neue Welten betreten. Statt immer um die Leute herumzukreisen und mit Teleobjektiven aus Büschen zu schießen, geht man mitten rein. Paff. Du musst daran glauben, dass du etwas zu geben hast. Was du gibst, bekommst du zurück.

Swedish Photography, Berlin, bis 16. Juli