5. Marrakesch-Biennale in Marokko

Wo stehen wir?

Die Frage, ob dem Chaos nicht eine geheime Ordnung zugrunde liege, beschäftigt die Philosophen seit über 2000 Jahren. Es ist aussichtslos, ausgerechnet auf einer Biennale eine befriedigende Antwort finden zu wollen. Dennoch versuchten die Besucher der 5. Marrakesch-Biennale während der Eröffnungswoche, Sinn in der eigenen Orientierungslosigkeit zu entdecken. Das Thema der Schau, "Where are we now?", ließ ihnen jedenfalls keine Ruhe. Schon das Programmheft bot mehr Verwirrung als Information. So dürften viele Besucher den Teil der Biennale verpasst haben, der dieses Jahr Premiere feierte: Neben der bildenden Kunst berücksichtigt die Schau nun auch Performances.

Doch auch wer es schaffte, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein, konnte sich auf Überraschungen einstellen. Am ersten Tag bot sich etwa in der Ruine des Königspalastes al-Badi ein rührender Anblick. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, weil eine spektakuläre Performance des nigerianischen Künstlers Jelili Atiku angekündigt war. Nach langem Warten ging das Gerücht um, Atiku werde dort doch nicht wie geplant mit über 50 Schafen einziehen, die die Berber, das Bergvolk Marokkos, und ihre Unterdrückung repräsentieren sollten – jemand habe die Aktion verboten. Auskunft darüber, warum die Papiere, die König Mohammed VI. ausgestellt hatte, nicht reichten, konnten selbst die Organisatoren der Biennale nicht geben. Die Schar zog also weiter, einer Schafherde nicht unähnlich.

Mehrere der bildenden Künstler, die der niederländisch-marokkanische Kurator Hicham Khalidi eingeladen hatte, reagierten direkt auf örtliche Gegebenheiten. Wie viele der Biennale-Künstler arbeitete zum Beispiel Adriana Lara mit marokkanischen Handwerkern zusammen – sie ließ Teppiche herstellen, die kaum von lokaler Ware zu unterscheiden waren. Andere konnten sich sogar gegen die Reizüberflutung der Stadt behaupten. Der Nam-June-Paik-Preisträger Cevdet Erek hatte eine Soundinstallation geschaffen, deren Klopfgeräusche in der Stille des Gefängnishofs des al-Badi an Regentropfen oder das Klappern der Storche erinnerte, die auf den Palastmauern nisten. Und in einer stillgelegten Bank am zentralen Marktplatz war ein neues Video von Keren Cytter zu sehen, das den Djemaa al-Fna tatsächlich vergessen ließ: Die Skype-Fenster, digitalen Animationen und Überwachungskameraaufnahmen der Arbeit kontrastierten die Verkaufsstände, Pferdekarren, Gaukler und Kobra-Hypnotiseure der Umgebung.

Aber es gelang vor allem den performativen Werken, Marrakesch zu transformieren. Nach Sonnenuntergang baute ein Mathematiklehrer im Auftrag des französischen Künstlers Saâdane Afif eine Tafel und einen Tisch auf dem Marktplatz auf, kleine weiße Skulpturen waren darauf befestigt. Binnen weniger Minuten lauschten viele Menschen seinem Geometrie-Unterricht. "Warum machst du das?" fragte ein Junge, der weder lesen noch schreiben konnte. "Du bist auf einer Kunstbiennale", antwortete der Lehrer. Der Junge lächelte und nickte. Da war sie, die Ordnung im Chaos, für einen Augenblick tatsächlich greifbar. 

5. Marrakesch-Biennale, Marokko, bis 31. März