Wyss vs. Beuys: Die Reaktionen

Von „mutig“ bis „demagogisch“: Sechs Antworten auf Beat Wyss’ Essay „Der ewige Hitlerjunge“, den Monopol im Oktoberheft veröffentlichte

Als Monopol Beat Wyss, den Schweizer Kunsthistoriker und Professor an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, fragte, ob er einen Beitrag anlässlich der Beuys-Retrospektive im Hamburger Bahnhof verfassen wolle, erbat sich Wyss eine kurze Bedenkzeit. Dann sagte Wyss zu, nicht ohne vorher eine Warnung ausgesprochen zu haben: Mit seinem Text werde man sich keine Freunde machen. Wyss sollte recht behalten. Seine polemisch zugespitzte These: Beuys habe in seinem Künstlerhabitus Ideen und Symbole verinnerlicht, die ihm als Hitlerjunge eingeimpft wurden.

Ihm, dem „Wiedergänger der 30er-Jahre“, sei eine habituelle Verschmelzung von völkischem Wandervogel und 68er-Rebell gelungen, seine Vorstellung von Politik als „sozialer Plastik“ sei patriarchal bis ins Mark. Außerdem wies Wyss (nicht als Erster) darauf hin, dass der Urmythos des Joseph Beuys frei erfunden sei, nach dem Tataren den abgestürzten Wehrmachtsoldaten mit Filz und Fett gesund pflegten. Kurz nach Veröffentlichung erreichten die Redaktion erste Anrufe von aufgebrachten Weggefährten des Künstlers.

Beuys früherer Privatsekretär Heiner Bastian nannte den Text „abstrusen, niederträchtigen Schmutz“ und schrieb in einem offenen Brief, er könne Wyss’ Ausführungen nicht erwidern, dann müsse er „aus diesem widerlichen Sumpf zitieren, unmöglich ohne Ekel“. Tim Ackermann sprang Bastian in der Welt am Sonntag zur Seite und forderte, Beuys nun keinesfalls „in die rechte Fettecke“ zu stellen – während Elke Buhr in der Berliner Ausstellung durchaus Belege für die These von Beat Wyss fand. „Wer das Prinzip der politischen Repräsentation abschaffen will“, so Buhr in der Frankfurter Rundschau, „ist sicher kein guter Demokrat im konventionellen Sinne.“

Hier sechs Statements zum Essay von Wyss.


Thomas Hirschhorn

„Joseph Beuys hat – mit seiner Kunst – den Kunstbegriff für immer erweitert. Er war es auch, der – durch seine Kunst – den Durchbruch in die Wirklichkeit geschaffen hat. Joseph Beuys muss – immer noch – für seine Arbeit bezahlen? Er ist – als Künstler – auch da ein Beispiel! Seine Kunst wird noch heute angezweifelt? Dies zeugt von der Widerstandsfähigkeit seiner Arbeit! So muss es sein. Ich liebe seine Kunst.“

Werner Spies
Beuys hat für eine radikale Selbstbefragung von Kunst und Gesellschaft Entscheidendes beigesteuert. Wenn man den Künstler nun, wie das Beat Wyss tut, beschuldigt, er habe sich in der Konstruktion seiner Vita nicht an die Fakten gehalten, dann erscheint mir dieser Vorwurf abwegig.
Jeder schöpferische Mensch schafft sich seine eigene imaginative, notwendige Wahrheit. Goethe sprach von „Dichtung und Wahrheit“, Max Ernst von „Wahrheitsgewebe und Lügengewebe“. Dieser fundamentale Text von Max Ernst erschien zudem erstmals in deutscher Sprache zu der Zeit, da sich Beuys daranmachte, sein eigenes Leben in die Form eines mythischen Lebensberichts zu kleiden. Mit dem freien, poetischen Vorgehen schließt sich Beuys in der Nachkriegszeit dem an, was es in Deutschland nie gab, der surrealistischen Taktik. Dieser ging es darum, den Positivismus anzugreifen, um über die Geringfügigkeit des Realen hinauszugelangen.
Die Debatte, die heute wieder herbeigezwungen werden soll, erinnert an jene, die in den 60er-Jahren geführt wurde. Die Verführung durch die beuyssche Biografie, die sich vor aller Augen abspielte, war damals so stark, dass die Menschen seine Arbeiten allenfalls als Accessoires eines exempla­rischen, unabhängigen Lebens wahrnehmen wollten. Doch diese Fixierung auf das Biografische ist auf die Dauer nicht haltbar, denn sie führt zur Schwächung eines Werks. Es geht heute darum, die Arbeiten des Künstlers Beuys nicht weiterhin als Requisiten eines Lebens, sondern als Skulpturen zu beurteilen. Man sollte Beuys im Kontext von Giacometti, „Primary Struc­tures“ oder Arte povera sehen. Um dies tun zu können, müssen wir endlich auf die Übernähe zu Beuys verzichten – auch wenn sich dabei der eine oder andere, der immer noch von und in der Legende Beuys lebt, in seiner Tristesse aus der Fettecke in den Schmollwinkel zurückziehen muss.

Luc Tuymans
Beuys ist eine eigenartige Figur, zweifellos besessen von den Kriegsjahren. Er hatte so etwas Klaus-Kinski-haftes, war ungemein charismatisch, hat die Szene kontrolliert, seinen eigenen Fotografen gehabt – und was wäre er ohne seine treuen Studenten gewesen? Natürlich sind der selbst betriebene Kult um seine Person, das Schama­nengehabe, die Rudolf-Steiner-Lehren und die ganze dämliche 68er-Bewegung problematisch.
Was Beat Wyss schreibt, ist daher interessant, mutig, vielleicht ist es auch notwendig, den Mythos Beuys zu entzaubern. Aber Beuys’ Bedeutung allein auf seine Person zu reduzieren ist nicht ausreichend. Das wäre bei keinem Künstler ausreichend, und Beuys ist sicher der bedeutendste deutsche Künstler der Nachkriegszeit.
Spannend ist für mich das Verhältnis von Beuys zu anderen Künstlern. Ich erinnere mich an ein Fernsehgespräch zwischen Joseph Beuys und Anselm Kiefer, bei dem Kiefer ziemlich blöd aussah. Beuys
hat ihn regelrecht umgehauen, was natürlich auch nicht schwierig war. Eine andere interessante Paarung waren Beuys und Blinky Palermo, der einst sein Starschüler war, aber sich künstlerisch dann doch in eine andere Richtung entwickelt hat.

Susanne von Falkenhausen
Bei den augenblicklichen (recht konstruierten) Aufregungen geht es darum, den Mythos Beuys mit den historischen Kontinuitäten des deutschen „Sonderweges“ – von der „konservativen Revolution“ über den Nationalsozialismus bis zur posttechnologischen Naturromantik mancher Grüner – entweder in Verbindung zu bringen oder ihn davor retten zu wollen. Wyss hat diese Verbindung polemisch überzogen, aber historisch triftig dargelegt. Dabei kriegen auch die 68er noch einiges ab: genauso autoritär wie ihre Väter (dem kann ich nur in Grenzen widersprechen), mit einer Neigung zum Glauben.
Wo ein Glaube ist, ist auch ein Guru; und typischerweise ist der Guru für die einen (mich zum Beispiel) ein Obskurantist und für die anderen ein „Aufklärer“ (Bastian zu Beuys). Für mich ist der Prediger und Ideo­loge Beuys nicht zu trennen von seiner Kunst. Beuys’ Unverträglichkeit mit Fluxus spricht da eine deutliche Sprache, ebenso wie Broodthaers’ berühmte Kritik an ihm in Form eines fiktiven Briefes von Jacques Offenbach (deutscher Jude in Paris) an den Gesamtkunstwerkler Richard Wagner (veröffentlicht unter dem Titel „Politics of Magic?“ in: Rheinische Post, 3.10.1972).
Wie sollte sich auch Beuys’ Führungsanspruch – der Künstler als Prophet und Volkserzieher – trennen lassen von seinen Arbeiten, deren Symbol- und Materialwelt ja auf seine Prophetien hinarbeiteten? Gerade dieser Totalitätsanspruch im künstlerischen Zugriff auf die Welt zeigt nun die Grenzen seiner Arbeiten auf: die Vergeb­lichkeit ihrer Antiästhetik (im Lauf der Zeit wird alles „schön“, auch ein Hundekamm, was schon Duchamp beklagte), die Veraltung der Botschaft, die Diskrepanz zwischen Predigt und Objekt. Da bleibt wohl nur, Beuys’ Kunst und seine Rezeption zu kontextualisieren und zu historisieren. Das könnte zu lohnenden Fragen führen, die nicht in (Markt-)
Wertdebatten stecken blieben. 
Übrigens: Für Tim Ackermann („Stellt ihn nicht in die rechte Fettecke!“, in: Welt am Sonntag, 28.9.2008) ist Beuys’ Vitrine „Auschwitz Demonstration“ „neben Paul Celans Gedicht ‚Todesfuge‘ eine der frühes­ten und intensivsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust“. Die „Todesfuge“ wurde 1952 veröffentlicht, die Vitrine stellte Beuys 1968 zusammen. 16 unterschlagene Jahre sind ein weiterer, klitzekleiner Baustein für den Mythos. Beuys in einem Atemzug mit Paul Celan vor den Karren deutscher Auschwitz-Bewältigungsbefindlichkeit zu spannen geht mir zu weit; Umpolen zum Neigungsjuden gilt nicht.


Johannes Stüttgen
Die Privatexpertisen des Beat Wyss, das Wiedergängertum von Hitlerjungen, die clowneske Ästhetik des Scheiterns der 68er und den „Laiendiskurs über Gott und die Welt“ betreffend, sind zeitgeistgemäß. Sie entsprechen den Blasen der Geldspekulanten und haben so wenig wie diese mit realem Kapital, mit Kunst, geschweige denn mit Joseph Beuys zu tun. Schlimmer: Wyss greift auf bekannte demagogische Muster und Mittel zurück – das übelste von denen: die Nazinummer. Das Wort vom „ewigen Juden“ und das vom „ewigen Hitlerjungen“ entspringen der gleichen Sprache.

Wolfgang Ullrich
Als ich den Essay von Beat Wyss las, fielen mir zwei frühe Erfahrungen mit Beuys ein. So dachte ich wieder an mein Unbehagen, als ich das erste Mal, ungefähr 15-jährig und ohne Vorwissen, sein Foto „La rivoluzione siamo noi“ sah. Es erinnerte mich fatal an das berühmte Bild Mussolinis beim Marsch auf Rom – zumal sein vergilbter Schwarz-Weiß-Ton den Eindruck weckte, das Foto stamme tatsächlich aus der Zeit selbst erklärter Führer und Putschisten.
Einige Jahre später, am Anfang meines Studiums, wurde mir erneut unbehaglich zumute, als nämlich Uwe M. Schneede, damals Professor in München, nach Beuys’ Tod den Hörsaal betrat und mit ziemlich scharfer Stimme ausrief: „Wir erheben uns zum Andenken an Joseph Beuys.“ Diese Schweigeminute und das damit erzwungene Kollektivbekenntnis empfand ich als massive Verletzung akademischer Freiheit. Natürlich darf man dafür nicht Beuys selbst verantwortlich machen. Doch wurde mir daran bewusst, wie ein Mensch mit starker Ausstrahlung – über die Beuys zweifellos verfügte – andere so faszinieren kann, dass sie ihrerseits autoritär reagieren: Charisma produziert Gefolgschaft und Abhängigkeiten.
Sosehr er Basisdemokratie und Selbstbestimmung für alle Menschen fordern mochte, so sehr geriet Beuys also immer wieder in die Position eines Führers, dem sich viele unkritisch anschlossen. Dass er oft auch noch „typisch deutsche“ Ansichten vertrat und etwa, wie schon die Romantiker oder die Autoren des „Ersten Systemprogramms des deutschen Idealismus“, Staat und Arbeitswelt pauschal als mechanisch kritisierte und dafür einen durch die revolutionäre Kraft der Kunst geschaffenen Organismus, eine soziale Plastik, erträumte, lässt daher um so misstrauischer werden. In Beuys erhielt die Kunstreligion eine Macht, die mir bis heute unheimlich ist.